„Ich würde Sie gerne einmal besuchen und Ihnen eine ungewöhnliche Bitte vortragen. Wären Sie dazu bereit?“, fragte mich eine Frau am Telefon. Schon zwei Tage später stand sie vor der Tür meiner Klause: eine ältere Dame mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Sie erzählte mir von ihrem verstorbenen Mann, von den vielen Reisen, die sie mit ihm unternommen hatte, und von ihren Gedanken, die sie sich dazu gemacht habe. Dann schaute sie mich fragend an: „Glauben Sie wirklich, dass nur wir Katholiken ‚in den Himmel kommen‘, so wie ich das mal als Kind gelernt habe? Es kann doch nicht sein, dass Millionen von Hindus oder Moslems ‚verloren gehen‘, wie man das so sagt.“
„Jede Religion kennt die Liebe. Aber die Liebe kennt keine Religion“, gab ich zur Antwort und zitierte dabei den persischen Mystiker Rumi. Außerdem verwies ich meine aufgeweckte Gesprächspartnerin auf einen kirchlichen Text, der zwar schon über sechzig Jahre alt ist, an Aktualität aber nichts verloren hat. Dort heißt es: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“ „Und warum hört man so etwas so selten in den Predigten?“, fragte mich meine Gesprächspartnerin sichtlich überrascht.
Dann aber wurde sie ernst und kam auf ihr ursprüngliches Anliegen zu sprechen. „Schauen Sie, ich bin jetzt Anfang 80. Mein Abschied von dieser Welt kommt näher, und ich schaue dankbar auf mein Leben zurück. Vor Gott und dem Tod habe ich keine Angst.“ Die gute Frau griff nach ihrer Tasche und packte zu meinem Erstaunen eine leere Urne aus, die sie offensichtlich selbst wunderschön bemalt hatte. Eine herrlich blühende Frühlingswiese war darauf zu sehen, ein blauer Himmel, weiße Wolken und eine strahlende Sonne. Dazwischen immer wieder Unterschriften von Menschen.
„Das ist die Urne, in der ich einmal bestattet werden möchte. Auf ihr befinden sich viele Namen von Freunden und Bekannten, die mir auf meinem Lebens- und Glaubensweg irgendwie weitergeholfen haben. Menschen, die vor allem mein Gottesbild geweitet haben. Dazu gehören auch Sie, weshalb ich mich freuen würde, wenn Sie die Urne signieren würden.“
Über solch einen reflektierten Umgang mit dem Tod konnte ich nur staunen. Mir fielen biblische Worte des Propheten Jesaja ein, der sie im Auftrag Gottes dem Volk Israel überbrachte, die aber auch einem jeden und einer jeden von uns gelten: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. Wenn du durch Wasserfluten gehst, bin ich bei dir. Reißende Ströme spülen dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, verbrennst du nicht. Die Flammen können dir nichts anhaben.“
Am Ende unserer Begegnung unterschrieb ich die Urne in der Hoffnung, dass meine Gesprächspartnerin sie hoffentlich noch nicht allzu schnell brauchen wird.