Leben jetzt: Evangelikale gewinnen immer mehr an Einfluss. Aber was ist das überhaupt für eine Gruppe?
Dr. Leandro Luis Bedin Fontana: Eine Definition ist sehr schwierig, denn das ist keine eigene Konfession, es gibt keine gemeinsame Kirche. Die Evangelikalen sind vielmehr eine sehr hetero- gene protestantische Gruppe mit einer Vielzahl von Kirchen und Akteuren und einer stark emotionalen Ausrichtung. Meist werden auch die sogenannten Pentekostalen oder Pfingstchristen hinzugezählt, für die der Heilige Geist von zentraler Bedeutung ist. Zusammen machen sie 25 Prozent des Christentums aus, wobei die Pfingstchristen die deutlich größere Gruppe darstellen. Eine klare Unterscheidung zwischen diesen Gruppen ist aber je nach Kontext sehr schwierig.
Lj: Und wer sind die Pfarrer, Prediger oder Pastoren dieser Bewegung?
Fontana: Während es bei den Evangelikalen eine geregelte theologische Ausbildung gibt, kann bei den Pfingstlern jeder Pastor werden, seine eigene Kirche grün- den, seine eigene Gemeindepraxis gestalten – auch ohne theologische Ausbildung. Das heißt, er spricht nicht verkopft, sondern auf Augenhöhe in der Spra- che seiner Zuhörer. Die Pastoren kommen selbst aus den Slums und predigen dort in sogenannten Garagenkirchen. Es gibt aber auch das Phänomen der Megakirchen, wo sich wöchentlich Tausende von Gläubigen versammeln.
Lj: Was verbindet denn diese unterschiedlichen Strömungen?
Fontana: Gemeinsam sind den Evangelikalen vier Merkmale: erstens ein persönliches Bekehrungserlebnis, zweitens die Betonung des Kreuzes und des Sühnetodes Christi. Dann die Überzeugung, dass die Bibel unfehlbar ist. Und viertens der aktive missionarische Einsatz, um den Glauben zu verbreiten. Dieser Aktivismus ist aber nicht nur religiös, sondern auch politisch. Denn die Kirchenvertreter sprechen sich deutlich für bestimmte Politiker und politische Positionen aus.
Lj: Für antidemokratische Ideologien?
Fontana: Auch. Es gibt zwar auch politisch progressive Evangelikale, aber die meisten haben konservative Moralvorstellungen und führen einen Kulturkampf gegen liberale Werte, den selbst martialisch als Kampf „Gut gegen Böse“ bezeichnen. Ihre Agenda ist neoliberal, teils antidemokratisch, abgekoppelt von den Menschenrechten, unter anderem mit populistischen und faschistischen Tendenzen. Sie bekämpfen die sogenannte Gender-Ideologie und lehnen Homosexualität und Abtreibung strikt ab. Bei Wahlen sprechen sich die jeweiligen Kirchenführer ganz klar für ihren Kandidaten aus, etwa Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien.
Lj: Welche Rolle spielen die Medien?
Fontana: Eine sehr große. Die Evangelikalen besitzen Radio- und Fernsehsender, mit denen sie ihre Weltsicht und eigene Version von Fakten und Nachrichten verbreiten. Über Whatsapp-Gruppen werden insbesondere bei Wahlen viele Fake News verbreitet.
LJ: Wie kann die katholische Kirche auf die Evangelikalen reagieren?
Fontana: Sie reagiert bereits. Inzwischen haben sich viele Gemeinden in Afrika und Lateinamerika mit Duldung des Vatikans den Pfingstkirchen angepasst oder charismatisiert. Das heißt, sie sind weniger dogmatisch, gestalten den Gottesdienst lebendiger und emotionaler, auch hier gibt es inzwischen Zungenreden und Geistervertreibung. Der Vatikan ist vor allem mit Pfingstchristen im stetigen theologischen Dialog. Das ist auch wichtig, um möglichst zu verhindern, dass diese von mächtigen Strippenziehern politisch vereinnahmt werden.