Wollte ich Jesus charakterisieren, dann fällt mir als Erstes ein: Er war ein Mensch aus einem Guss! Er hat eine Mitte – und auf die ist alles, was er denkt, redet und tut, hingeordnet. Es scheint keine Ambivalenz in ihm zu geben, kein Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Polen. Da gibt es nur einen Pol und eine Polung. Deswegen ist Jesus auch so geistesgegenwärtig und um keine Antwort verlegen. Er braucht sich nur auf seine Mitte zu besinnen – und schon fließt die Antwort daraus.
Den aufgebrachten Männern, die eine in flagranti erwischte Ehebrecherin in die Öffentlichkeit zerren, kritzelt er etwas am Boden vor, damit sich die Aufregung zuerst einmal legen kann, und dann sagt er einen Satz, der genügt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8).
Von den falschen Männern, die ihn in eine Zwickmühle treiben wollen, lässt er sich eine Münze zeigen und sagt dann: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12).
Von seiner leiblichen Mutter, seinen leiblichen Brüdern und Schwestern, die ihn zur Räson bringen wollen, sagt er sich los, indem er in den Kreis seiner Zuhörer blickt und sagt: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3). Noch zwei Stellen möchte ich zitieren, wo Jesus Aussagen anderer auf den Punkt lenkt, auf den er bezogen ist: „Was nennst du mich gut?“, fragt er den reichen Jüngling, der ihn mit „Guter Meister“ begrüßt. „Niemand ist gut außer der eine Gott!“ (Mk 10). Und der Frau, die ihn selig preist (indem sie seine Mutter selig preist), gibt er zurück: „Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen“ (Lk 11).
„Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5). Damit ist nicht gemeint: Seid perfekt und fehlerfrei wie Gott, sondern: Seid vollkommen ausgerichtet – wie eine Kompassnadel, wie eine Sonnenblume. Das war Jesus! Man könnte das auch „Einfalt“ nennen, nur klingt das zu brav. Im recht verstandenen Sinn war Jesus „einfältig“.
Mich beeindruckt immer wieder der Satz: „Meine Speise ist es, den Willen Gottes zu tun“ (Joh 4). Was für andere eine Zerreißprobe ist, ist für Jesus die Nahrung, die er zum Leben braucht, das tägliche Brot, die Quelle der Kraft, der Treibstoff seines Daseins.
Zu guter Letzt fällt mir noch das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der kostbaren Perle ein (Mt 13). Es trägt eindeutig autobiografische Züge: Jesus selbst hat den Schatz für sich entdeckt und die Perle gefunden, die ihm mehr als alles andere wert sind.
Kann einem Gott mehr als alles schenken?
Mehr kluge Texte der Steyler lesen Sie in unserer Zeitschrift.