Unter menschenunwürdigen Bedingungen vegetieren die Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen. Die Steyler Schwester und Gefangenenseelsorgerin Martine González hilft ihnen zu erkennen, was zu ihren Taten führte. Und sich mit ihrem Leben und ihren Opfern zu versöhnen.
Es ist der Gestank, den Schwester Martine González als Erstes wahrnimmt, wenn sie das Eingangstor zum Parelheiros- Gefängnis in São Paulo passiert – diese Mischung aus Dreck und Angst. Wärter führen sie durch schmutzige Gänge, vorbei an übel riechender Abwasserbrühe. Elf weitere Gittertüren werden hinter ihr verriegelt, bis die Schwester einen kleinen Raum betritt, in dem die Gefangenen auf sie warten.
Etwa 20 Männer sind es, die hier ihre Strafe absitzen – für Drogenhandel, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Mord. Narben und Tätowierungen zeugen von ihrem Leben im Gefängnis, ebenso die gebückte Haltung, der gesenkte Blick. Keiner schaut Sr. Martine ins Gesicht, zumindest zu Anfang nicht. Augenkontakt wird im Gefängnis als Einladung zu Gewalt betrachtet.
Seelsorge im wahrsten Sinne des Wortes
Bei zehn wöchentlichen Treffen will die Steyler Schwester mit diesen Männern daran arbeiten, die Gründe für ihr Handeln zu verstehen. Und sich mit dem eigenen Leben, aber auch mit ihren Opfern zu versöhnen. „Restorative Justice“ heißt dieser Prozess im Englischen, es lässt sich am ehesten mit Wiedergutmachung übersetzen. „Wir helfen dabei, dass die Männer Zugang zu sich, zu ihrer Seele finden. Wir wollen sie in ihrer Menschlichkeit und Würde stärken. Somit ist unsere Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes Seelsorge“, erklärt Sr. Martine.
Um ihre Haltung nachvollziehen zu können, hilft es, sich die katastrophalen Zustände in brasilianischen Gefängnissen vor Augen zu führen. Brasilien ist das Land mit den drittmeisten Gefangenen der Welt. Etwa 700.000 Menschen sitzen zurzeit ein, meist Schwarze aus den Armenghettos. Wer hierherkommt, hat keine Rechte, die Untersuchungshaft kann bis zu acht Jahre dauern. „In diesen Gefängnissen entsteht keine Reue, sie machen die Männer nicht zu besseren Menschen. Im Gegenteil. Die Zustände schüren Gewalt“, so Sr. Martine.
Zwei Schwestern und 20 Häftlinge
Seit über zehn Jahren besucht Schwester Martine, eine gebürtige Spanierin, die einen Doktortitel in Religionswissenschaft besitzt, die Gefangenen, gemeinsam mit Sr. Helena Christo SSpS. Derzeit ist Corona-Pause.
Nein, Angst hat Sr. Martine nicht vor den Gefangenen, sie urteile auch nicht, sagt die 72-Jährige. „Ich gehe mit offenem Herzen und mit Zuneigung zu ihnen. Wir begegnen uns auf Augenhöhe.“ Und so sitzen die beiden Schwestern den Häftlingen gegenüber – zwei ältere Frauen, die es den Männern leicht machen, Vertrauen zu fassen.
Zu Anfang des Kurses erklären sie den Männern die Gewaltspirale, in der sie gefangen sind. Es ist ein Teufelskreis aus Wut, Rache, der Leugnung von eigener Schuld und wahrer Gefühle. „Um ihm zu entkommen, müssen die Häftlinge lernen, ihre Trauer, ihren Schmerz und ihre Angst auszudrücken und anzunehmen“, betont Sr. Martine. Doch über Gefühle reden, das haben die Männer in der vom Machismo geprägten Gesellschaft nicht gelernt. Und im Gefängnis gilt: Bloß keine Schwäche zeigen!
Da sie nicht sprechen wollen, malen sie. Die Männer bekommen Papier und Farbstifte, um eine schöne Erinnerung aus der Kindheit zu zeichnen. Die zu finden ist für viele nicht leicht. Aber dann erinnern sie sich doch an den einen oder anderen Glücksmoment. Schwieriger ist es, den tief vergrabenen eigenen Schmerz zuzulassen. Dafür bekommen die Gefangenen einen Klumpen Ton in die Hand. Sie sollen damit eine prägende Erfahrung formen, in der sie selbst Opfer von Gewalt wurden. Manche versuchen, eine erlebte Gewaltsituation darzustellen – etwa eine Szene, in der ein Polizist sie grundlos zusammenschlug. Andere modellieren eine Waffe, mit der sie bedroht oder verletzt wurden. Oft werden Gitter geformt, denn gerade das Gefängnis und die Bedingungen dort werden als Gewalt erfahren.
Opfer und Täter zugleich
Durch Gespräche, Rollenspiele und Geschichten, die vorgelesen werden, begreifen die Männer nach und nach, dass sie eben nicht nur die harten Kerle sind, als die sie sich inszenieren, sondern auch Opfer. Seelisch verletzte Menschen, die durch Gewalt viel verloren haben: ihr Selbstvertrauen, ihre Beziehungen, den Sinn ihres Lebens.
Auf der anderen Seite sind sie aber auch Täter. Sich bewusst zu machen, welches Leid sie verursacht haben, ist für die meisten beschämend. Sich ihrer Schuld zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, dazu sind viele am Ende des Kurses in der Lage. Denn die Schwestern zeigen ihnen einen Weg aus ihrer hoffnungslosen Situation: die Vergebung. Viele der Kursteilnehmer wollen später Kontakt zu ihrem Opfer aufnehmen, sich entschuldigen, Wiedergutmachung leisten. „Nur so kann wirkliche Gerechtigkeit entstehen“, davon ist Sr. Martine überzeugt. Sie hat deshalb bei den Behörden nachgefragt. Das Ansinnen wurde abgelehnt.
Bessere Menschen
Sr. Martines Workshops sind begehrt, es gibt Wartelisten. „Die Männer schreiben mir, wie dankbar sie dafür sind, dass sie die Vergebung entdeckt haben, dass sie sich endlich als Mensch angenommen fühlen. Sie sagen, wie gerne sie der eigenen Familie, die sich meist von ihnen losgesagt hat, mitteilen würden, dass sie ein besserer Mensch geworden sind.“ Das ist der Anfang von etwas Gutem. Und so viel mehr, als Strafvollzug in Brasilien je erreichen kann.
Mehr zur Arbeit der Schwestern erfahren Sie in unserer Zeitschrift.
Jeder kann lernen zu verzeihen – und tut sich selbst damit einen großen Gefallen. Denn Groll bindet Energien und macht unfrei, kettet uns an den „Täter“.