Wenn ein Mensch einen Mord begeht, dann ist er zwar von einer Sekunde auf die andere zum Mörder und Kriminellen geworden, aber doch nicht in dem Sinn, dass das Böse plötzlich, binnen einer Sekunde, in ihn einschoss. Es braucht einen langen Weg, bis diese Tat in ihm „heranreift“. Kein Mensch wird als Mörder geboren.
Aber vielleicht hat der Mörder schon als Kind viel aufbrausende Wut und Gewalttat erfahren. Vielleicht hat er schon als Kind einem Schmetterling die Flügel ausgerissen – ohne danach den Entschluss zu fassen, so etwas nie wieder zu tun. Vielleicht hat er in seiner Jugend gelernt, materielle Werte über den Wert des Lebens und der lebendigen, aufrichtigen Beziehung zu stellen, sodass er nun aus Geldgier mordet.
Auch wenn wir „das Werden des Mörders“ im Nachhinein nicht mehr nachverfolgen können – der Prozess hat stattgefunden: Niemand wird aus heiterem Himmel zum Mörder. Der Mord hat eine lange Vorgeschichte.
Und weitreichende Folgen.
Wenn einer fähig war, einen Mord zu begehen, dann ist die Hemmschwelle zum zweiten vielleicht herabgesetzt: Meine Tat tut etwas mit mir und macht mich bereit für die nächste, die dann schon leichterfällt.
Wenn ein anderer Mensch durch einen Mörder ein geliebtes Kind, einen geliebten Partner verliert, sinnt er vielleicht auf Rache. „Ich könnte ihn umbringen!“, sagen wir – und tun es möglicherweise sogar. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären“, so steht es schon bei Friedrich Schiller.
Die böse Tat bleibt nicht in sich abgerundet, sie pflanzt sich fort, sie steckt mich selber zu weiteren Taten an und andere ebenfalls, findet „Nachahmungstäter“.
Ein Mord hat eine Nachgeschichte. Wenn „Sünde“ die böse Einzeltat eines Einzelmenschen ist, so steht sie eben nie isoliert da, sondern ist verkettet mit anderen bösen Einzeltaten (eigenen wie fremden), die ihr vorausliegen. Und sie zieht wieder andere böse Einzeltaten (eigene wie fremde) nach sich. Man könnte das „Schuldverflochtenheit“ nennen oder „Unheilszusammenhang“ oder „Sündenpotenzial“ – oder eben „Erbsünde“.
Die „Erbsünde“ entschuldigt bis zu einem gewissen Grad die „Sünde“, aber nie ganz. Wenn ich zum Mörder werde, dann mögen da meine Eltern einen großen Beitrag dazu geleistet haben, aber den Mord begehe allemal ich, und den Entschluss dazu habe ich gefasst.
Wehe uns Menschen – wie kommen wir aus diesem „Teufelskreis“ je heraus?
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