‚Leben jetzt‘: Kann jeder Mensch schauspielern?
Kai Ohrem: Professioneller Schauspieler kann sicherlich nicht jeder werden, weil da sehr viel zusammenkommen muss: intellektuelle, körperliche und emotionale Fantasie – und die Fähigkeit, das umzusetzen, Belastbarkeit, außerdem Teamfähigkeit. Eine gewisse Besessenheit braucht es auch. Aber natürlich kann jeder Mensch spielen, und es ist ein Gewinn für alle, Menschen beim Spiel zuzuschauen.
Lj: Wie läuft Schauspielunterricht ab?
Ohrem: Wir vermitteln zwar auch den ein oder anderen Trick, etwa beim vergessenen Text, aber das ist Nebensache. Der Unterricht ist in erster Linie situationszentriert. Das heißt, ich versuche, Situationen entstehen zu lassen. Wie baue ich einen Konflikt auf? Wohin führt der? Und wenn der dazu führt, dass die Tränen kommen, dann kann ich sie auch kommen lassen. Aber generell ist es interessanter, auf der Bühne davon zu erzählen, was gegen ein Gefühl aufgeboten wird, als sich dem Gefühl hinzugeben. So werde ich wandelbar für verschiedene Rollen.
Lj: Ist es schwer, eine Situation zu spielen, die man selber nie erlebt hat?
Ohrem: Schauen wir uns die Geschichte der Medea an: eine Frau, die als Fremde stigmatisiert wird und ihre Kinder ermordet. Den einen Teil kennen leider sehr viele Menschen, die als Fremde stigmatisiert werden. Der andere Teil – den, die eigenen Kinder zu töten – ist einer, den nur sehr wenige Menschen aus eigener Erfahrung kennen. Aber um das spielen zu können, muss man es nicht erlebt haben.
Lj: Es reicht aus, sich das vorstellen zu können?
Ohrem: Da sind wir in sehr wichtigen und komplexen Debatten des Gegenwartstheaters: Wer darf was wie spielen? Das sind ja nicht nur Fragen von Rollen. Es geht auch darum, wer was wie auf einer Bühne vertreten kann. Sich mit Denkweisen auseinanderzusetzen, die man gar nicht notwendig kennt oder teilt – das ist das, worin Theater sehr wertvoll für Gesellschaften sein kann.
Lj: Wie wirkt sich gesellschaftlicher Wandel auf das Theater aus?
Ohrem: Theater findet nicht im luftleeren Raum statt. Es braucht und sucht immer eine Verbindung zur Wirklichkeit. Wenn sich hier in Österreich eine Partei rassistisch äußert, kann ich nicht so tun, als lebte ich in einem Land, das mit Rassismus keine Probleme hat. Mein Tun auf der Bühne muss das in irgendeiner Form reflektieren.