Erstellt von Xenia Frenkel

Die Kraft der Berührung

Eine Person hält die Hand einer anderen
Hände können streicheln, umarmen, Kraft spenden - und das ist gut so

„Das schöne deutsche Wort ‚berühren‘ beschreibt, wie das Taktile ins Emotionale übergeht und das Innerste des Menschen bewegen kann“, sagt die in Südkorea geborene und aufgewachsene Philosophin Hoo Nam Seelmann. | Foto: AdobeStock

Berühre mich! Vom Zauber der Hände und der lebensspendenden Kraft der Berührung

Während der letzten Wochen meiner Mutter habe ich oft stundenlang an ihrem Bett gesessen und ihre Hand in meiner gehalten. Ab und zu wechselten wir ein paar Worte, doch die meiste Zeit schwiegen wir. Einvernehmlich. Sie hatte die Augen geschlossen, und wenn ich ihr zart über die Wange strich, lächelte sie. Zwei Jahre später, als die Welt von einem Virus in Atem gehalten wurde und allerorten Kontaktverbote galten, war ich gottfroh, dass sie das nicht hatte erleben müssen – und dass ich meine alte Mutter mit einer Umarmung verabschieden durfte.

Manchmal vergisst man, wie wichtig eine liebevolle Berührung ist, wie tröstlich, beruhigend, ermutigend eine Hand ist, die hält. Eine Umarmung, ein Kuss auf Wange oder Stirn können Wunder bewirken, ja, lebensrettend sein. Durch eine liebevolle Berührung, das ist ihr eigentliches Wunder, wird die Grenze zwischen innen und außen aufgehoben und jene feine Linie sichtbar, die den Körper mit dem verbindet, was wir Seele nennen.

Umarmungen schenken das Gefühl, zum Leben dazuzugehören

Berühren und berührt zu werden gehört zu den essenziellsten menschlichen Bedürfnissen. Ohne sind wir kaum überlebensfähig. Neugeborene, die nur ver- und nicht umsorgt werden, verkümmern seelisch und körperlich.

Seine ersten Kontakterfahrungen macht der Mensch bereits vor der Geburt. Durch die Bauchdecke spürt das Ungeborene die sanften Streichelbewegungen von Mutter und Vater, nach der Geburt erfährt das Kind unmittelbar ihre – hoffentlich – beruhigende, tröstliche, fürsorgliche und zärtliche Gegenwart, Körpererfahrungen, die sich tief ins physische und psychische Gedächtnis einschreiben und bei jeder Umarmung abgerufen werden. Der Organismus lernt gewissermaßen, dass liebevolle Berührung zu schnellem Stressabbau führt, sagt der Wahrnehmungspsychologe Martin Grunwald.

Bei Paaren und zwischen Eltern und Kindern reicht schon eine Umarmung von wenigen Sekunden, um eine Veränderung der Stressbiologie messbar nachzuweisen. Die Muskulatur entspannt sich, die Atmung wird ruhiger, die Herzfrequenz niedriger, gleichzeitig erhöht sich die Aufmerksamkeit. Diese besondere Art der Stressreduktion funktioniert auch sonst, etwa bei einer entspannenden Massage, nur nicht ganz so schnell.

Berührungen stärken das körperliche und seelische Immunsystem. Wer regelmäßig den Lebensmenschen, die Kinder, Enkel, Freunde in die Arme nimmt, fühlt sich lebendiger, belastbarer, gesünder – und ist es auch. Körpertherapien gewinnen daher auch in der klinisch-psychosomatischen Arbeit zunehmend an Bedeutung.

Wenn es an weichen Kontakten fehlt

Eine Umarmung verbindet nicht allein einen Körper mit dem eines anderen, sondern mit der ganzen Welt. Ein Mangel an Zärtlichkeit und Zuwendung verursacht hingegen ein Gefühl von großer Leere und zwischenmenschlicher Sterilität. Der Mensch erstarrt innerlich wie äußerlich, hat das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören und überflüssig zu sein. Er wird freudlos und am Ende krank. Zu allem Überfluss wird das schroffe, abweisende Verhalten vereinsamter Menschen oft als charakterliches Defizit missdeutet, dabei ist es nur ein Schutzmechanismus, um den erlittenen Mangel an Zuwendung zu kompensieren.

Unabwendbares Schicksal ist das nicht. Schon eine einzige Berührung kann die lebenszugewandten Energien wieder zum Fließen bringen. In Filmen wird an dieser Stelle dem verbittert-verknöcherten Hagestolz ein Enkelkind an die Hand gegeben oder ein Katzenbaby in Schoß gelegt.

Tatsächlich werden auch im wirklichen Leben bei Einsamkeitsdepressionen häufig Tiere als Co-Therapeuten eingesetzt. Vor allem bei älteren Menschen, denen es besonders oft an weichen Kontakten fehlt. Weil sie allein leben, verwitwet oder kinderlos sind – oder im Heim, wo schlecht bezahlte und überforderte Pflegekräfte kaum Zeit für die so dringend benötigte Zuwendung haben.

Was es braucht, sind liebende Hände

In der Sprache der liebevollen Geste gibt es allerdings recht unterschiedliche Begabungen. Mir wurde schon mal mitten im Gespräch eine Hand auf die Schulter gelegt und blieb dort achtlos liegen – wie auf einem Kaminsims. Das hatte nichts mit #Metoo zu tun, eher mit Unbeholfenheit mangels Übung in Sachen taktvoller Berührung. Die rührt meiner Beobachtung nach aus einer Zeit, in der jedwede zarte Geste außerhalb des ehelichen Schlafzimmers verpönt war. Statt Umarmung, Kuscheln, Wangenkuss gab’s früher einen rustikalen Knuff ins Kreuz, sollte doch insbesondere der männliche Nachwuchs in Vorbereitung auf die zukünftige Rolle als „echter“ Mann auf keinen Fall verzärtelt werden. Gut, dass das vorbei ist.

Neue Höflichkeits- und Zärtlichkeitssitten

Wie, wann, wo Menschen einander berühren und anfassen dürfen, ist abhängig von der Zeit und deren Moden und natürlich auch von der jeweiligen Kultur. Seit Menschen verstärkt auf Reisen gehen und aus der Ferne neue Höflichkeits- und Zärtlichkeitssitten mitbringen, wird auch hierzulande weit mehr umarmt und geküsst als früher. Letztlich kommt es darauf an, ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viel körperliche Nähe einem oder einer anderen angenehm ist.

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