Seit fast drei Jahren lebe ich als Eremit am Rande eines Waldes im Südsauerland und betreue einen kleinen Wallfahrtsort. Für viele Besucher wirkt dieses Leben etwas exotisch, im besten Fall romantisch. Ich selbst fühle ich mich sehr wohl und habe zunehmend den Eindruck, in diesem Lebensstil „angekommen“ zu sein, wie man so schön sagt. Trotzdem gleicht mein Leben in der Klause einem Drahtseilakt. Da ist einerseits meine Sehnsucht, mich aus dem Getriebe unserer Gesellschaft herauszunehmen und mehr der Stille zu lauschen.
Andererseits gibt es den Wunsch vieler Menschen, dass ich für sie und ihre Anliegen da sein möge. So habe ich meinen Alltag dreigeteilt: Während ich morgens in der Stille meditiere, Tagebuch schreibe und spirituelle Literatur lese, bin ich am Nachmittag für jene Menschen da, die das Gespräch suchen, sich einen Rat für ihr Leben erhoffen oder mich einfach um ein Gebet bitten.
Am Abend dann kann ich wieder in die Stille meines Gebetsraumes eintauchen und trage die Erfahrungen des Alltags und meine Begegnungen vor Gott.
Es sind immer wieder bewegende Momente, wenn ich mit Besuchern der kleinen Kapelle „über Gott und die Welt“ ins Gespräch komme.
Ich staune, wie offen sie sind und was sie mir alles aus ihrem Leben anvertrauen. Ich denke da beispielsweise an Andreas, jenen jungen Mann, der fast täglich zur Kapelle kommt, hier ein Teelicht entzündet und für einige Momente im stillen Gebet verweilt. Ich habe Andreas, der Mitte zwanzig ist, gefragt, warum er sich das antue, bei jedem Wetter 3,5 Kilometer vom Dorf zur Kapelle zu laufen und nachher wieder zurück. Über seine Antwort habe ich nicht schlecht gestaunt.
„Norbert“, sagte er mir, „seit über 600 Jahren gibt es diesen Gebetsort hier. Jede Generation hat hier ihre Anliegen vor Gott getragen. Der Ort ist für mich ein echter Gnadenort. Als der letzte Weltkrieg tobte, hatten viele Frauen im Dorf Angst, dass ihre Männer nicht mehr aus dem Krieg zurückkommen könnten. Jeden Tag kamen sie hier hoch, um für eine gesunde Heimkehr zu beten. Das weiß ich aus den Erzählungen der Alten, und ich weiß auch, dass mein Vater nach meiner Geburt hier täglich gebetet hat, weil es nicht sicher war, ob ich durchkommen würde. Ich baue mein Leben sozusagen auf dem Glaubensfundament anderer Generationen auf. Und es wäre doch schade, wenn ich diese Tradition nicht weiterführte. Weißt du, da steh ich drauf.“
Beim letzten Satz mussten wir beide grinsen. Aber ist es denn nicht wirklich so: Wir Menschen brauchen eine gute Grundlage, damit wir die Herausforderungen bestehen können, die das Leben uns zumutet. Wenn diese Grundlage fehlt, lassen Erschütterungen uns zusammenbrechen, und dann laufen wir Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren.