Über den schwierigen Weg zur Selbsterkenntnis
„Eigentlich bin ich ganz anders." Dieser Gedanke kann eine Spur zu sich selbst sein, doch der Weg zur Selbsterkenntnis ist gar nicht so leicht zu gehen. Lj-Autorin Xenia Frenkel hat sich dazu Gedanken gemacht
„Und wer sind Sie jetzt?“ Diese Frage von einem mir unbekannten, offenkundig schlecht gelaunten Gast auf einer Geburtstagsfeier traf mich völlig unvermittelt. Ich hätte gern etwas Schlagfertiges erwidert. So wie Cary Grant in „Arsen und Spitzenhäubchen“: „Ich bin eine Kaffeekanne, und Sie?“ Stattdessen stotterte ich: „Ich weiß es nicht.“
Das ist die Wahrheit. Natürlich kenne ich meinen Namen und mein Geburtsdatum, weiß einigermaßen um meine Stärken und Schwächen, meine Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen. Aber bin das ich, die Gemüsesuppe mag, nicht gut mit Geld umgehen kann und sich bei jedem Kinderweinen angesprochen fühlt? Oder sind das nur anerzogene, angenommene Verhaltensweisen und Rollen? Bin ich die Summe meiner Eigenschaften, Überzeugungen, Gewohnheiten?
„Erkenne dich selbst“
Die antiken Denker verstanden die Inschrift am Eingang des Orakels von Delphi als Aufforderung, sich der eigenen Unzulänglichkeit bewusst zu werden und seinen Charakter durch Einsicht zu veredeln.
Inzwischen ist die Suche nach dem Selbst ist ein Massensport geworden. Besonders beliebt sind Psychotests. Einer von den seriöseren ist der Big-Five-Persönlichkeitstest, der das Persönlichkeitsprofil auf den fünf grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen Neurotizismus (Emotionskontrolle), Extraversion (Geselligkeit), Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit ermittelt.
„Eigentlich bin ich ganz anders“
Unabhängig von sozialer Herkunft, Ethnie, Kultur, Religion sind die meisten Menschen überzeugt, dass tief in ihnen etwas Einzigartiges schlummert: das wahre Selbst, ein Juwel. Leider versteckt es sich gern hinter dem Wörtchen „eigentlich“.
„Eigentlich bin ich ganz anders, ich bin gar nicht der Typ, den jeder in mir sieht …“, singt Udo Lindenberg. Auch wir sind „eigentlich“ ganz anders, viel netter, engagierter, lustiger, einfühlsamer, zuverlässiger, gescheiter … Nur warum sind wir es dann nicht? Liegt es daran, dass wir mehr damit befasst sind, uns ein schmeichelhaftes Selbstbild zu basteln, statt in uns hineinzuschauen? Das ist wohl so, und es ist menschlich. Auch hat ein dezent(!) geschöntes Selbstbild durchaus Vorteile. Es macht umgänglich und hilft, das Auf und Ab des Lebens besser zu meistern. Wenn man sich dagegen immerzu knallhart beurteilt, verbittert man leicht.
Wie macht man es besser?
Indem man davon ausgeht, dass man selbst und jeder andere auch stets etwas dazulernen und verbessern kann. Auch sollte man Zweifel über sich zulassen. Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die felsenfest von ihrer Einfühlsamkeit, Großzügigkeit … überzeugt sind, sich wenig Mühe geben, das unter Beweis zu stellen. Wer hingegen unsicher ist, ob er eine positive Eigenschaft besitzt, ist eher geneigt, ihr gemäß zu handeln.
Selbstüberschätzung hat noch einen anderen Effekt, ein Phänomen, das nach seinen Entdeckern, den Psychologen David Dunning und Justin Kruger, benannt wurde. Der Dunning-Kruger-Effekt meint, dass inkompetente Menschen auffällig oft ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen, während sie gleichzeitig die Leistungen kompetenter Menschen unterschätzen. Man begegnet ihm beispielsweise, wenn bei Fußballspielen die Zuschauer felsenfest überzeugt sind, bessere Entscheidungen treffen zu können als ein professionelles Trainerteam.
Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.
Karl Valentin