Erstellt von Ulla Arens

Unterwegs im ewigen Eis

Das ewige Eis
Nichts als Eis wohin das Auge blickt

Wunderschön und zugleich auch gefährlich: das ewige Eis | Foto: shutterstock

Keine Geräusche, keine Gerüche, weder Menschen noch Tiere – nur Eis und Schnee, wohin man schaut. Birgit Lutz hat mehrere Expeditionen in die Arktis unternommen und berichtet von ihren Eindrücken

'Leben jetzt': Immer wieder zieht es Sie in die Arktis. Wie ist Ihre Leidenschaft für diese geheimnisvolle Region entstanden?
Birgit Lutz: Ich habe mich schon früh für die Polarwelt interessiert und viele alte Expeditionsbücher gelesen, in denen die unglaubliche Schönheit der Landschaft beschrieben wurde. Als Journalistin durfte ich dann für eine Reportage mit einem Eisbrecher zum Nordpol fahren – und da war es um mich geschehen. Die Begeisterung für diese Region versteht man wohl nur, wenn man die Eiswelt einmal mit eigenen Augen gesehen hat.

Lj: Was fasziniert Sie so an dieser Welt aus Eis?
Lutz: Die Arktis ist einfach ein grandioser Lebensraum mit diesen gewaltigen Massen an Eis und Schneebergen. Dazu das Licht, das die Landschaft in unterschiedliche Farben taucht. Ich kann da stundenlang einfach nur schauen und staunen. Steht man zum Beispiel auf der grönländischen Eiskappe, dann sieht man um sich herum nur Weiß, eine weiße Oberfläche, die von Wellenlinien durchzogen ist, die der Wind hineingepresst hat. Die Luft ist ganz klar, es riecht nach gar nichts. Und man hört, wenn es windstill ist, überhaupt nichts. Es kann nicht mehr stiller werden als auf dieser grönländischen Eiskappe.

Lj: Was macht die Stille mit Ihnen?
Lutz: Ich erlebe sie als etwas Wunderbares. Sie tut mir gut, ich kann meine Gedanken fließen lassen. Die Stille, die man dort erlebt, macht auch empfindlich. Ich empfinde inzwischen schnell eine gewisse Reizüberflutung, wenn zu viel auf einmal auf mich einströmt; es stresst mich, wenn es laut ist. Deshalb bin ich auch von München aufs Land gezogen.

Lj: Sie überqueren das ewige Eis auf Skiern, mit Schlitten und mit einem Zelt im Gepäck. Das klingt extrem anstrengend.
Lutz: Ist es auch. Aber ich liebe die Einfachheit, wenn ich auf diese Weise unterwegs bin. Es geht dann nur um die grundlegenden Fragen: Wie lang ist die nächste Etappe? Was esse ich in der Pause? Wie halte ich mich warm? Es ist ein ganz reduziertes Leben, und das empfinde ich als befreiend.

Lj: Sind solche Touren nicht auch sehr gefährlich?
Lutz: Man muss sich schon gut vorbereiten. Man darf die Spalten im Eis nicht übersehen oder die Schmelzwasser-Canyons. Der 80 Kilo schwere Schlitten muss gemeistert und über die Gefahrenzonen gebracht werden. Man muss rechtzeitig erkennen, wann schlechtes Wetter aufzieht, sich gut gegen Erfrierungen wappnen. Seine Ausrüstung in Schuss halten ist wichtig. Wenn etwas kaputtgeht, kann das fatale Folgen haben. Früher waren Expeditionen aber deutlich gefährlicher. Schließlich haben wir heute GPS-Geräte dabei, um uns zu orientieren, und ein Satellitentelefon, sodass man uns im Notfall zu Hilfe kommen kann.

Lj: Im Winter werden es in der Arktis minus 30 Grad und kälter. Kann man die Kälte hören?
Lutz: Das kann man tatsächlich. Das Meereis beispielsweise ist ja nicht statisch, es liegt auf dem Polarmeer, das immer in Bewegung ist. Irgendwann bricht es, auch wenn es mehrere Meter dick ist. Da wirken enorme Kräfte. Dieses Knallen und Krachen sind beeindruckende Geräusche, die man mit nichts anderem vergleichen kann. Auch das Gleiten der Skier auf dem Schnee hört sich faszinierend an – sie machen einen hohen Ton, als würden sie singen. Geht man dagegen auf dem Schnee, entsteht ein knirschender Ton, der so hoch ist, dass es sich manchmal schon unangenehm anhört. Bei uns in Deutschland knirscht der Schnee viel tiefer, dunkler, weil er feuchter ist.

Lj: Kann das Fehlen sinnlicher Eindrücke auch belastend sein?
Lutz: Auf meiner Grönlandexpedition haben mir die Weite und Leere schon manchmal zugesetzt. So schön es auch ist – wenn alles gleich aussieht, ist es schwierig, sich für die nächsten 20 Kilometer zu motivieren. Während der Durchquerung, die einen Monat gedauert hat, haben wir einen Vogel gesehen – sonst nichts. Ich habe mir dann oft vorgestellt, barfuß über eine Blumenwiese zu gehen, wo alles summt und brummt. Aber darin besteht ja auch die Herausforderung dieser Touren – sich dahin zu bewegen, wo es nichts gibt. Wo man mit dem zurechtkommen muss, was man selbst mitbringt. Mangels Außenreizen bekommt allerdings auch alles, was passiert, eine größere Bedeutung. Vor allem, was das Team betrifft, mit dem man unterwegs ist. Äußerungen, Bewegungen und Handlungen wirken tiefer und lösen somit tiefere Reaktionen aus, Teamdynamiken entwickeln sich schnell, im positiven wie negativen Sinn.

Lj: Und wenn es dann zu Problemen im Team kommt?
Lutz: Wenn man sich gemeinsam auf eine Grönlanddurchquerung begibt, ist man aufeinander angewiesen. Dann hängt das eigene Überleben unter Umständen von den anderen ab. Das heißt, man muss die ganze Zeit daran arbeiten, sich gut zu verstehen. Leider klappt das nicht immer und dann ist man einsam auf eine sehr absolute Weise. Wenn der andere schweigt, kann man nicht teilen, was man sieht, denkt, fühlt. Ich habe das einmal erlebt und möchte diese Erfahrung nicht noch einmal machen. Deshalb gibt es nur noch sehr wenige Personen, mit denen ich eine solche Expedition machen würde. Weil ich weiß, dass wir uns verstehen und zu 100 Prozent füreinander da wären.

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Unsere Gesprächspartnerin

Birgit Lutz, 50, ist Autorin und Expeditionsleiterin und lebt am Schliersee in Bayern. 2010 und 2011 marschierte sie mit dem Schweizer Abenteurer Thomas Ulrich auf Skiern zum Nordpol über den letzten Breitengrad. 2013 durchquerte sie mit Freunden Grönland. Dorthin kehrte sie seitdem mehrmals zurück. Gemeinsam mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven entwickelte sie 2016 ein „Citizen Science Projekt“: Mit den Gästen von Schiffstouren, die sie leitet, sammelt sie an Spitzbergens Stränden den Plastikmüll, kategorisiert, wiegt und zählt ihn.

In ihrem jüngsten Buch „Mein Spitzbergen“ erzählt sie von ihren Erlebnissen in Spitzbergen. mareverlag, 20 Euro.

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