Kürzlich blätterte ich in meinem alten Poesiealbum – und erschrak. Denn eine Ilse, an die ich mich nicht mehr erinnere, schrieb mir darin: „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ Ähnliches las ich von einer Monika: „Sei gut und bescheiden, so mag Dich jeder leiden.“ Und die achtjährige Ilona gab mir Folgendes mit auf den Weg. „Sei gehorsam, sei bescheiden, folge gern der Eltern Wort. Lerne reden, lerne schweigen, aber stets am rechten Ort.“
Puh. Das war also die Rolle, die mir damals als Mädchen zugedacht war. Für Jungen galten diese Worte nicht, Poesiealben besaßen sie ohnehin keine. Über den Inhalt der Verse habe ich als Kind nicht nachgedacht, geschweige denn sie infrage gestellt. Sondern mich einfach nur darüber gefreut, dass schon wieder eine Seite des Albums gefüllt war. Und außerdem: So war ja das Frauenbild damals. Wir sollten angepasst sein, zurückhaltend, nur nicht auffallen, es allen recht machen, keinem Schaden zufügen.
Innere Regeln übertreten? Es folgen Schuldgefühle
Es wurde erwartet, dass wir uns um Familie und Haushalt kümmern, uns einfühlsam zeigen, ohne eigene Ansprüche und Bedürfnisse, natürlich auch keine sexuellen. Nach diesen Regeln haben Mütter und Großmütter erzogen und so haben sie es, zumindest die meisten von ihnen, auch vorgelebt.
Was blieb meiner Generation anderes übrig, als diese Regeln zu verinnerlichen? So bin ich ungewollt und unbewusst zum Veilchen geworden. An die Rose habe ich mich nicht getraut. Was ich damals nicht ahnte: Ein Veilchen zu sein ist ganz schön anstrengend. Aus ihm erwachsen keine Dornen, aber dafür jede Menge Schuldgefühle. Weil meine Wünsche und Bedürfnisse sich den Regeln in die Quere stellen. Und weil sich das Frauenbild in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat und heute niemand mehr solche Poesiealbum-Verse zitieren würde, ohne ausgelacht zu werden.
Doch das Veilchen in mir hat längst Wurzeln geschlagen, die neue Entwicklung hin zu innerer Stärke, freier Selbstbestimmung und gesunder Abgrenzung ignoriert es geflissentlich. Deshalb fühle ich mich weiterhin mies, wenn ich jemandem einen Wunsch abschlage, weil mir die Zeit fehlt. Meine Freundin will mir zum x-ten Mal von ihren Eheproblemen erzählen, die sich ständig wiederholen, und ich habe keine Lust zuzuhören? Zack – Schuldgefühl.
Nicht mehr falschen Pflichten gehorchen
Schuldgefühle gehören zu unserem Leben dazu, sind Teil unserer biologischen Grundausstattung. „Indem sie sich melden, machen sie uns erst die inneren Regeln bewusst, nach denen wir leben“, erklärt mir die Wiener Psychologin Helga Kernstock-Redl („Schuldgefühle“, Goldegg, 22 Euro).
„Weil sie sich so unangenehm anfühlen, wollen wir sie instinktiv vermeiden. Das heißt, sie motivieren uns zum Befolgen sozialer und moralischer Spielregeln. Ohne sie würde das Recht des Stärkeren gelten.“ Und: Sie halten uns den Spiegel vor, helfen uns Fehler zu erkennen, sie gutzumachen und uns weiterzuentwickeln.
Besonders Frauen neigen zu Schuldgefühlen
„Frauen haben besonders viele Schuldgefühle, weil sie so viele Regeln haben“, so die Psychologin. Das hat Folgen: Sie führen zu Erschöpfung, nagen am Selbstwertgefühl, machen uns Frauen zu den härtesten Kritikerinnen unserer selbst. Das wiegt umso schwerer, wenn man, objektiv betrachtet, gar keine Schuld auf sich geladen hat. Ich habe ja keinem etwas wirklich Böses angetan. Sondern lediglich nicht dem Veilchen-Image entsprochen.
Futter bekommen die typisch weiblichen Schuldgefühle auch durch die Kirche. Im Religionsunterricht etwa habe ich gelernt, dass die Sünde weiblich ist. Es soll Eva gewesen sein, die das Schlechte in die Welt gebracht und uns aus dem Paradies vertrieben hat. Außerdem gilt sie als die Verführerin schlechthin. Nicht umsonst wird der neuen Frau gern die Schuld gegeben, wenn der Partner es mit der Treue nicht so genau nimmt. Und immer noch kommt es vor, dass missbilligend auf die Kleidung von Frauen geschaut wird: Die fordert es ja wohl heraus, so wie die angezogen ist!
Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich gnädiger zu mir werde und das Veilchen in mir verkümmern lasse. Aber wie? Dazu sei es wichtig, dass ich mir bei jedem Schuldgefühl die Regel dahinter bewusst mache und hinterfrage, sagt mir Kernstock-Redl. Und mich dann ganz klar entscheide, ob ich sie behalten will oder nicht. „Ein Bollwerk gegen diese Regel sind Rechte, die man sich stattdessen aufbaut.“
Rechte statt Regeln
Ich habe natürlich das Recht, mir etwas Schönes zu gönnen. Das Geld dafür habe ich schließlich selbst verdient. Ich werde auch weiterhin versuchen, für andere Menschen da zu sein, zu helfen, wo ich kann. Ich darf aber auch mal „Nein“ sagen, oder selbst um Hilfe bitten. Und wenn meine Söhne zu Besuch kommen, muss nicht der selbst gebackene Kuchen auf dem Tisch stehen, es darf auch ein gekaufter sein.
„Je öfter man diese Rechte ausübt, umso eher überlagern sie dann die alten Regeln“, so die Psychologin. Bei mir wird das sicherlich etwas dauern, bis es zum Erfolg führt und mir die ersten Dornen wachsen. Eine lang blühende Rose finde ich ohnehin viel schöner als ein Pflänzchen, das sich nur im März von seiner besten Seite zeigt.
Und was soll falsch daran sein, auch mal stolz wie eine Rose zu sein? Natürlich bin ich stolz auf meine tollen Söhne. Auf meinen Job, der mir viel Spaß macht. Darauf, dass ich mein Leben bei allen Widrigkeiten ganz gut gemeistert habe. Und noch etwas spricht für die Rose: Sie ist schließlich das Symbol für die Liebe.