Es ist erstaunlich, wie schnell uns die Bibel zum Thema „Flucht und Vertreibung“ führt. Abraham und Sara zum Beispiel waren Migranten, die schließlich in Palästina einwanderten. Mehr als Geduldete waren Abrahams Nachkommen über Generationen hin nicht. Gottes Verheißungen an die Erzeltern gehen dahin, sie zu einem großen Volk im Besitz dieses Landes zu machen.
Teil einer Volksgemeinschaft zu sein, Landbesitz, Bleiberecht, sicheres Wohnen, der Inbegriff von Selbstbestimmung und Freiheit, das bleibt ein Traum für Millionen von Vertriebenen bis heute.
Eine Hungersnot machte Jakobs Familie zu Wirtschaftsflüchtlingen. Wenn man die Exodus-Geschichte heute niederschreiben würde, dann wären die „Israeliten“ die Slumbewohner von Kairo. Ihr Los war, immer noch weiter in Armut hinabgedrückt zu werden. Sie ergriffen die Flucht.
Gott ließ ihre Flucht gelingen und führte sie an seinen Berg. Dort erschien er ihnen und schloss mit ihnen einen Vertrag („Bund“). Sie verpflichteten sich auf die Thora, auf Gottes Weisung und Gesetz; er verpflichtete sich, sie zu einer Gesellschaft zu machen, in der es nicht zugeht wie unter anderen Völkern, wo krasse soziale Ungerechtigkeit herrschte. Sondern zu einer Modellgesellschaft, die der Welt vorlebt, wie unter Gottes Herrschaft Zusammenleben in Geschwisterlichkeit gelingt.
Bis heute sind sowohl Israel wie auch die Kirche Lichtjahre davon entfernt, „Volk Gottes“ im Sinne dieses Bundesschlusses zu sein. Dessen ungeachtet bleibt das Buch Exodus die Gründungsurkunde für das „Volk Gottes“ aller Zeiten. „Der HERR, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen.
Nicht mit unseren Vätern hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier stehen, mit uns allen, mit den Lebenden.“ (Dtn 5,2–3). Die Bibel versetzt uns an den Horeb. Nicht in grauer Vorzeit wurde der Bund geschlossen, sondern „heute, mit uns“.
Die Bibel zwingt uns hinein in die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen im Niemandsland „Wüste Sinai“; denn mit ihnen schließt Gott seinen Bund. Zum „Volk Gottes“ kann nur gehören, wer selbst „dort“ war: im Sklavenhaus Ägypten, am Sinai. Nur wer die Erfahrung gemacht hat, Fremder und Entrechteter zu sein, kann Gottes Gebote befolgen.
Von daher: Was können wir aus der Bibel lernen bezüglich „Flucht und Vertreibung“? Dass wir uns in Flüchtlinge und Vertriebene hineinversetzen und die Welt mit ihren Augen sehen müssen. Mit ihren Augen sieht auch Gott diese Welt. Nur eine Weltsicht, eine Weltanschauung „von unten“, ist der Bibel, der jüdisch-christlichen Religion gemäß.