Erstellt von Xenia Frenkel

Die Kunst des schönen Gebens

Zeichnung von Menschen, die Herzen in einem großen Glas sammeln
Die Tugend der Großzügigkeit gilt als edle Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht

Großzügigkeit kann ansteckend sein, das bemerkte unsere Autorin Xenia Frenkel schon als Kind | Foto: shutterstock

So nannte der Dichter Heinrich Heine die Großzügigkeit. Und weil uns der Sommer gerade mit langen, leuchtenden Tagen und reicher Ernte beschert, ist es an der Zeit, diese schöne Gabe einmal zu würdigen

Vermutlich kennt jeder Menschen, die bei Restaurantbesuchen grundsätzlich ihr Portemonnaie „vergessen“ haben. Dieses Verhalten ist umso unangenehmer, weil es in aller Regel in keinem Verhältnis zu den realen Vermögensverhältnissen steht.

Übertriebene Sparsamkeit ist zwischenmenschlichen Beziehungen wenig zuträglich. Nicht umsonst rangiert sie unter den unangenehmen Eigenschaften, die in der Lage sind, in kürzester Zeit eine Ehe zu ruinieren, auf den vorderen Rängen. Die Bibel sieht im Geiz gar „eine Wurzel allen Übels“.

Die Großzügigkeit – sie genügt sich selbst

In der Philosophie gilt Großzügigkeit als edle Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht. Sie gehört zu jenen vornehmen Tugenden, die sich selbst genügen, und schielt nicht auf Gegenleistung. Ganz anders der oder die Unbekannte, der Anfang dieses Jahres 100.000 Euro an ein Braunschweiger Hospiz spendete. Schon vor 13 Jahren durfte sich die Stadt über einen vier Jahre andauernden, anonymen Geldsegen freuen. Damals wurden verschiedene soziale Einrichtungen und bedürftige Privatpersonen mit insgesamt mehr als 200.000 Euro bedacht. Dass Menschen so selbstlos schenken und sogar darauf verzichten, in die strahlenden Gesichter der beglückten Menschen zu blicken – oder zumindest eine Steuerbescheinigung in Empfang zu nehmen –, ist außergewöhnlich und wunderbar, macht jedoch all jene großzügigen Gesten, die gesehen werden und gesehen werden wollen, nicht geringer.

Die Höflichkeit – auch eine Form der Großzügigkeit

„Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ heißt es im 2. Korintherbrief. So ist es. Und wie schön, dass sie einem so gut wie überall begegnen. Der Gemüsehändler packt gratis ein Körbchen Erdbeeren zum Einkauf, in der Pizzeria geht der Nachtisch fürs Enkelkind aufs Haus.

In ihrer einfachsten Form kleidet sich Großzügigkeit in Höflichkeit: Man überlässt anderen den Sitzplatz und das letzte Stück Kuchen. In ihrer schönsten Spielart trägt sie das Gewand der Gastfreundschaft: Man teilt großzügig Speis und Trank und freut sich an der Freude seiner Gäste.

Menschen sind viel weniger selbstbezogen, als man denkt, sagt die Wissenschaft. Schickt man Versuchspersonen, ausgestattet mit je zehn Euro, auf die Straße und schaut, ob sie davon etwas abgeben, dann tun sie das. Im Schnitt knapp drei Euro. Fast niemand gibt nichts. Diese Studien zeigen allerdings auch: Je öfter eine Versuchsperson um Geld gefragt wurde, desto weniger rückte sie heraus.

Der „sospeso“ – unerkannt großzügig sein auf Italienisch

Letztlich ist Großzügigkeit ein Wesenszug, eine Einstellung zum Leben. Wer wahrhaft großzügig ist, steht anderen unterstützend zur Seite. Er ist offen, zugewandt und aufmerksam, kann fünf gerade sein lassen und über Schwächen hinwegsehen. Nicht, weil er oberflächlich ist, sondern weil er sich in andere hineinversetzen kann und weiß, dass niemand ohne Fehl und Tadel ist. Deshalb sind großzügige Menschen so angenehm im Umgang. Überdies sind sie glücklicher und psychisch gesünder als der eher kleinliche Typus, sagen Verhaltensökonomen.

Apropos Rechnung. 2013 griff der englische Journalist John Sweeney die alte neapolitanische Tradition des „Caffè sospeso“ auf: Man bestellt einen Kaffee und zahlt für zwei. Der bereits bezahlte Kaffee wird dann dem nächsten Gast ausgegeben. Ursprünglich weniger ein Akt der Wohltätigkeit als vielmehr gedacht, anderen eine Freude zu machen, hat sich diese schöne Sitte als Ausdruck von Solidarität und Großzügigkeit mittlerweile über den halben Globus verbreitet.

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