Erstellt von Ulla Arens

Steyler Barockmusik aus dem Dschungel Boliviens

Ein einheimisches Orchester bei der Probe.
Ein einheimisches Orchester bei der Probe

Die Missions-Barockmusik wurde durch die Arbeit von Pater Nawrot zu neuem Leben erweckt | Foto: Lena Mucha for The New York Times

Vor 300 Jahren missionierten die Jesuiten bolivianische Ureinwohner. Sie hinterließen ein bedeutendes musikalisches Erbe, das erst von Piotr Nawrot im Dschungel entdeckt wurde. Der Steyler Missionar bringt die Musik wieder zum Klingen

Drei Stunden dauerte das Kreuzverhör im Dschungel. Die Indigenen aus dem bolivianischen Urwald stellten Pater Piotr Nawrot SVD viele Fragen. Über seinen Glauben, seine Hingabe an die katholische Kirche, sein Wissen über die Geschichte der Indigenen und – natürlich – über Musik. Erst als sie mit seinen Antworten zufrieden waren, überreichten sie ihm, wonach er gesucht hatte – 300 Jahre alte unbekannte religiöse und liturgische Musikstücke aus dem Barock. Niedergeschrieben auf Tausenden Notenblättern, hinübergerettet von den Indigenen aus der Zeit, als die Jesuiten das Land missionierten. Die Jahrhunderte, die Feuchtigkeit und Insekten hatten deutliche Spuren auf den Papieren hinterlassen. Dennoch: „Der Moment hat mein Leben von Grund auf verändert“, sagt Pater Nawrot heute, 34 Jahre später.

„Ich wusste sofort, dass ich den Rest meines Lebens dieser spirituellen und künstlerisch so wertvollen Musik widmen würde. Keine andere Musiksammlung der Welt hat so eine Geschichte: geschrieben in den Missionen, für Jahrhunderte versteckt im Dschungel und dann innerhalb weniger Jahrzehnte aufgeführt in der ganzen Welt – im Kennedy Center in Washington D.C., in der Wigmore Hall in London, in den großen Konzerthäusern von Amsterdam, Berlin, Tokio oder Warschau.“

Dass diese Musik der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und seitdem weltweite Beachtung findet, ist Pater Nawrot, 69, zu verdanken. Geboren in Posen als sechstes von neun Kindern, begann er früh mit dem Musikunterricht, lernte Singen, Klavier spielen und Klarinette. Vor allem für klassische Musik und Jazz konnte er sich begeistern. Bevor er in den Orden eintrat, war er bereits ein professioneller Musiker.

In Paraguay, wohin er nach seiner Priesterweihe 1981 für drei Jahre geschickt wurde, lernte er die Geschichte der Jesuiten-Missionen kennen: Ab 1609 baute der Orden in Lateinamerika Siedlungen (Reduktionen genannt) für die Indigenen, um diese vor den Sklavenjägern zu schützen und sie zu missionieren. Bei der Evangelisierung spielte Musik eine entscheidende Rolle. Pater Nawrot erklärt ihre besondere Wirkung so:

„Es macht einen großen Unterschied, ob ich etwa ein ,Ave-Maria‘ vorbete oder singe. Musik gibt dem Gebet eine tiefere Bedeutung, löst stärkere Empfindungen aus, geht direkt ins Herz und öffnet neue Wege zum Wort Gottes.“

Bei den musikalisch begabten Indigenen traf der Glaube durch die Musik auf offene Ohren und Herzen, wurde von ihnen durch Chöre und Orchester zum Klingen gebracht. Nur wenige Jahrzehnte reichten aus, um die Ureinwohner zu meisterlichen Barockmusikern zu formen. In jeder Reduktion, so Pater Nawrot, gab es etwa 30 bis 40 professionelle Musiker, die jeden Tag die Messe sangen. Auch Instrumente wurden von ihnen gebaut. „Keine Kathedrale Europas hatte im 18. Jahrhundert so einen musikalischen Reichtum wie die Missionen“, so der Pater. Das endete 1767, als die Jesuiten vertrieben wurden.

Lebendiger Glaube der Indigenen dank der Musik

In Paraguay, Argentinien, Uruguay und Brasilien ging die Missionsmusik verloren. Nicht so in der Chiquitania, einer Region im östlichen Tiefland Boliviens. Ein Schweizer Architekt, der die Kirchen einiger noch erhaltener Reduktionen renovierte, fand in den 70er- und 80er-Jahren Unmengen an alten Noten. Das Interesse Pater Nawrots war geweckt. Als er von einem Dorf im Dschungel erfuhr, wo es angeblich einen reichen Schatz an Musikstücken geben sollte, machte sich der Steyler Missionar, der inzwischen in den USA ein Musikstudium abgeschlossen hatte, auf die mehrtägige Reise in den Dschungel. Er erinnert sich:

„Nach diesem langen Gespräch vertrauten die Dorfältesten mir und holten die Blätter aus den Kisten, in denen sie bewahrt wurden. Und sie sagten zu mir diesen ­einen besonderen Satz, den ich nie vergessen werde: ,Wenn diese Sammlung verschwindet, werden wir alle verschwinden.‘ Die Musik war viel mehr für sie als bloß Klang und Harmonie. Sie war längst ein entscheidender Bestandteil ihrer kulturellen und spirituellen Identität geworden. Wie die Juden die Bundeslade haben die Indigenen die Noten mitgenommen, wo immer sie auch hinzogen. Die Lieder wurden von ihnen zum Teil in den Messen gesungen, die sie zelebrierten, auch wenn kein Priester anwesend war. Sie wussten um ihren künstlerischen und spirituellen Wert.“

Insgesamt wurden in den unterschiedlichen Missionen etwa 13.000 Blätter geistlicher Musik gefunden – Lieder, Messen, Hymnen. Die Stücke stammten zum Teil von europäischen Komponisten wie Antonio Vivaldi oder Domenico Zipoli, wurden von den Indigenen ihrem eigenen Geschmack und ihrer Spiritualität angepasst und verändert. Die meisten haben unbekannte Verfasser, die Missionare und Indigene schrieben sie selbst, zum Teil auch in indigener Sprache. Keines der Lieder war profan, alle dienten dem Lob Gottes.

Ein Festival der Missionsmusik mit internationaler Beteiligung

Seit seinem Fund arbeitet Pater Nawrot täglich an der Rekonstruktion der Notenblätter, komponiert fehlende Passagen. Sein Arbeitstag beginnt um halb fünf und dauert zwölf bis 14 Stunden, schließlich ist er auch aktiver Priester und Wissenschaftler. Über 40 Bände hat er schon herausgegeben. „Doch erst etwa zehn Prozent der Blätter sind rekonstruiert.“ Wenn seine Zeit es zulässt, reist er in die USA oder nach Europa, um über diese Musik zu sprechen. Sein Engagement löste auch einen regelrechten Musikboom in der Chiquitania selbst aus.

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Mit anderen befreundeten Musikbegeisterten gründete Pater Nawrot den Verein für Kunst und Kultur (APAC), der 1996 das erste internationale Barockmusik-Festival „Misiones de Chiquitos“ organisierte. Ursprünglich geplant als einmalige Veranstaltung, war es so erfolgreich, dass es seitdem alle zwei Jahre für zehn Tage stattfindet.
Voriges Jahr fand das Festival, dessen künstlerischer Leiter Pater Nawrot ist, zum 14. Mal statt. Lokale und internationale Künstler, Chöre und Orchester singen und spielen in Santa Cruz de la Sierra und Umgebung. Insgesamt 1100 Musiker nahmen vergangenes Jahr teil. Etwa 50.000 Menschen besuchten 134 Aufführungen – da­runter ein gemeinsames Konzert von einem lokalen indigenen Chor und dem Chor der Juilliard Music School in New York, einer der renommiertesten Musikakademien der Welt. Uraufgeführt wurde auch die einzig erhaltene und von Pater Nawrot rekonstruierte Missionsoper in indigener Sprache. Das Festival machte die Barockmusik aus den Missionen weltbekannt und führte zu Auftritten indigener Musiker im fernen Ausland.

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