Erstellt von Nadine Vogelsberg, Burkhard Maria Zimmermann

Wie kann ich mich von einem belastenden Thema befreien?

Die Dörnschlade im Sauerland
Viele Menschen besuchen Pater Cuypers zu Gesprächen auf der Dörnschlade

Das Leben ist kein gradliniger Pfad. Der Schritt, die Entscheidung, sich Hilfe zu holen, ist oft sehr wegweisend fürs Leben | Foto: Selina Pfruener

Frühling und Fastenzeit sind für viele Menschen eine Zeit der Klärung. Um welche Lebensthemen geht es dabei? Wie gelingt es Menschen, sich von belastenden Themen auf Dauer zu befreien? Die Psychotherapeutin Dr. Claudia Appel und Steyler Seelsorger Norbert Cuypers SVD erklären im gemeinsamen Interview ihre Methoden, berichten aus ihrer Arbeit mit Menschen – und finden erstaunliche Gemeinsamkeiten

Liebe Frau Appel, lieber Pater Cuypers, welche Rolle spielen Loslassen und innere Befreiung im Leben Ihrer Patienten?
Claudia Appel ~ Manche hadern mit ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Biografie, oder auch mit der Unumgänglichkeit des irdischen Todes. Ziel wäre es, das Unveränderliche zu akzeptieren. Da ich gleichzeitig auch Christin bin, aber nicht ohne Weiteres christliche Inhalte in die Therapie einbringen darf, kann ich für mich sagen, dass echtes Loslassen nur im Glauben an Jesus möglich sein wird. Auch wer zum Beispiel grübelt, kann nicht loslassen. Aus den Gedankenspiralen schöpft der Betreffende einen Gewinn, sonst würde er es nicht tun. Welcher Vorteil das sein könnte, ist je nach Person unterschiedlich, aber es kann mir zum Beispiel einen Eindruck von Sicherheit bringen. Und wenn ich verstehe, welchen Vorteil ich einfahre und dann bereit bin, auf diesen zu verzichten, weil ich mir etwa ein anderes Sicherheitsverständnis erarbeiten will, dann kann ich das durch Psychotherapie. Dazu passt für mich die Erzählung von Jesus, der einen Menschen fragt: „Willst du gesund werden?“ Jeder würde da zustimmen und sich fragen, was die Frage soll. Aber sie wird klassischerweise immer zu Beginn einer Therapie geklärt: Möchte ich das, oder gibt es etwas, wodurch ich mich selbst daran hindere, bestimmte Symptome oder Beschwerden loszulassen?
Norbert Cuypers SVD ~ Ich möchte das unterstreichen. Dieses Biblische finde ich sehr spannend, dass nämlich Jesus nicht übergriffig an den Menschen herangeht und sagt, er wisse schon, was der brauche und das dann einfach tut. Er fragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Das ist die Grundlage, um überhaupt etwas anzugehen. Meine Erfahrung ist, dass Menschen die geistliche Begleitung mitunter abbrechen, wenn sie an den Schmerzpunkt kommen. Denn dann würde es ja darum gehen, das Widerfahrene oder den Grund des Problems auszusprechen. Wenn der Wille nicht da ist, kann man nicht loslassen.

Mit welchen Themen kommen die Menschen zu Ihnen?
Cuypers SVD ~
Bei mir sind das oft Ehe- und Beziehungsprobleme, aber auch die Spannung zwischen dem Leben und der kirchlichen Lehre. Kürzlich war ein junger Mensch bei mir, der sich als homosexuell geoutet hat, aber christlich leben möchte und nicht wusste, wie er diese Punkte in sich vereinen soll. Zunehmend kommen auch Fragen des Glaubens, also: Wie kann ich heute in dieser Welt glauben? Ist etwas wie die Jungfrauengeburt noch glaubwürdig? Ist es ein Fehler, wenn ich die Sonntagspflicht nicht erfüllt habe? Das kommt vor allem von älteren Menschen, die noch sehr streng in dieser Richtung erzogen wurden. Oft geht es um akute Nöte wie den Suizid eines Verwandten. Manchmal kommen Menschen auch mit einem vordergründigen Problem, und im Lauf des Gesprächs merke ich dann, dass noch viel mehr dahintersteckt.
Appel ~ Ich habe häufig Patientinnen und Patienten mit emotionalen Turbulenzen, also Verzweiflung, Ängsten, Ärgerstörungen, Ärger, Trauer. Häufig hat ein Patient auch den Eindruck, er hat seine Prioritäten falsch gesetzt und merkt, dass etwas an ihm vorbeirauscht im Leben, also andere Vorhaben, die er einmal hatte. Auch Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit oder Einsamkeit sind häufige Themen. Dabei prüfe ich dann: Ist das etwas, was die Therapie auffangen kann? Man tut gut daran, auch die Nachbardisziplinen zu kennen und zu wissen, wen man empfehlen kann.

Könnte das auch ein Priester sein?
Appel ~ Genau, die Seelsorge ist immer wieder ein Thema, sogar für Nichtgläubige, die mitunter Fragmente von Glaubensansätzen mit sich herumtragen. Wir haben in Leipzig eine Liste mit Seelsorgern, und wenn ich merke, dass ich jetzt über geistliche Themen keine Auskunft geben kann, dann ermutige ich einen Patienten, zur Seelsorge zu gehen, und kann ihm dabei diese Liste an die Hand geben. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht.
Cuypers SVD ~ Ich bin auch schon den umgekehrten Weg gegangen. Das gibt es auch, dass ich über ein Seelsorgegespräch hi­naus merke: Da müsste jetzt eine Therapie eigentlich helfen. Angefangen bei gesundheitlichen Therapien, wenn jemand Alkoholprobleme hat oder andere Suchtpro­bleme. Da bin ich natürlich überfordert, ich kann keinen Entzug leiten. Oder wenn es um die Eheberatung geht oder um einen Fall, bei dem ich einen Verdacht auf Missbrauch hatte. Das sprengt meine Qualifikation. Auch wenn ich merke, dass Menschen immer wieder zu mir kommen und dabei auf der Stelle treten – dann ist es vielleicht auch sinnvoll, den Fall weiterzugeben.

Was schätzen Sie an den Fähigkeiten und der Arbeit des jeweils anderen?
Appel ~
Ich schätze erst einmal die Kompetenz, die ich nicht habe, um geistliche Themen durchzuarbeiten. Wahrscheinlich würde man Seelsorge eher als Begleitung bezeichnen und meine Arbeit als Behandlung.
Cuypers SVD ~ Ich habe viel über Begleitung und Psychologie gelernt, nur leider nicht im Studium. Deswegen habe ich ergänzende Ausbildungen in Gesprächsführung absolviert. Ich selbst habe eine Familienaufstellung und eine Gestalttherapie für mich gemacht, das war sehr hilfreich, denn ich kann einen Menschen nur begleiten, wenn ich mich selbst gut kenne und weiß, wo meine Themen sind. Ich muss mit offenen Händen und einem offenen Herzen zu meinem Gesprächspartner kommen, das habe ich aus der personenzentrierten Psychotherapie des amerikanischen Psychologen Carl Rogers gelernt: empathisch und erst mal nicht beurteilend – du darfst so sein, wie du bist. Ich finde den Begriff ‚wahrnehmen‘ so schön: Ich nehme wahr, ich habe eine Angst, oder ich habe eine Schuld auf mich genommen, und das bedeutet, ich nehme das als meine Wahrheit an, und das ist jetzt erst einmal so, ob ich das haben möchte oder nicht. Nur wenn ich meine Wahrheit anschaue, kann sie heilen. Ich glaube, dass Jesus ein ganz toller Therapeut war, denn er hat Fragen gestellt und damit neue Denkräume geöffnet. Seinen Begriff der Umkehr sehen wir oft moralisch in dem Sinne, dass der Mensch nicht mehr sündigen soll, aber man kann ihn auch anders auffassen: Denk mal andersrum, denk mal von einer anderen Perspektive her.

Ist der Mensch je fertig mit dem Prozess des Loslassens? Oder, anders gefragt: Wann endet die Behandlung oder die Begleitung?
Appel ~
Es gibt Therapieansätze, die können Probleme beheben und klären. Das Ziel ist, dass der Patient oder die Patientin unabhängig von der Therapie wird. Gleichzeitig können wir uns die Psyche des Menschen wie eine Zwiebel vorstellen, die gehäutet wird, während wir über uns selbst nachdenken. Wir erkennen immer nur eine Ebene an uns, und es ist möglich, dass ich Jahre nach der Therapie wieder eine Schicht in mir durchdrungen habe und mich erkenne in einer Tiefe, wie mir das zum Zeitpunkt der damaligen Therapie oder auch Seelsorge nicht möglich war. Das ist ein lebenslanger Prozess, und es kann passieren, dass ich erst zu bestimmten Zeiten mit einem bestimmten Reifegrad überhaupt in der Lage bin, den einen Satz meines Seelsorgers oder meiner Therapeutin in Gänze zu verstehen.
Cuypers SVD ~ Leben ist Bewegung, oder? Wenn ich mich nicht mehr bewege, dann bin ich tot. Deswegen wird sich bei mir immer etwas verändern. Das Leben verläuft nicht gerade wie eine Autobahn, da sind Schlängel und Brüche drin. Das Fatale ist, dass so eine Geradlinigkeit im Fühlen und in der Lebensführung manchmal von meinem Arbeitgeber erwartet wird. Viele junge Priester achten wieder mehr darauf, was die Menschen falsch machen, was sie beten müssen und welche Buße sie tun sollen, damit es wieder gut wird. Da werden diese zu wenig abgeholt. Ich habe bei der Kirche oft den Eindruck, dass sie zu wissen meint, was gut für die Menschen ist, und es ihnen aufdrängt: „Wir haben da was und das kriegst du.“ So war Jesus doch nicht. Ich finde es gut, wie er es sagt: „Komm erst mal so, wie du bist – und was willst du wirklich? Und dann gehe ich mit dir, um das zu erreichen.“ Gott führt in die Freiheit. Wenn Religion in die Enge führt, läuft etwas schief.
Appel ~ Und „Enge“ hat denselben Wortstamm wie „Angst“.
Cuypers SVD ~ Ah, da habe ich noch etwas von Ihnen gelernt! Dieses Herausfinden aus der Enge, das ist das Schöne an meinem Beruf: Zeuge werden zu dürfen, wie Menschen ein bisschen freier und glücklicher nach Hause gehen.

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Dr. Claudia Appel, 48, ist seit 21 Jahren Diplom-Psychologin und seit 14 Jahren psychologische Psychotherapeutin. Seit vier Jahren ist sie selbstständig in ihrer eigenen Praxis in Leipzig.

Pater Norbert Cuypers, 60, ist seit 40 Jahren Steyler Missionar und Seelsorger, seit 2020 lebt er als Eremit im Südsauerland, im Wallfahrtsort Dörnschlade. Er ist nachmittags immer gerne für Sie da. Sie finden ihn hier.

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