Was treibt eine Landschaftsmalerin an?
Tatiana An malt Landschaften. Immer und immer wieder. Nadine Vogelsberg wollte wissen, warum. Hausbesuch bei einer Künstlerin
Ein schmaler Kanal, der Haus und Straße voneinander trennt, dann ein großes grünes Tor: Hier, am Rande der niederländischen Stadt Utrecht, wohnt die Malerin Tatiana An gemeinsam mit ihrem Mann Marcel zwischen knorrigen Bäumen, mehreren verstreuten Bauernhäusern aus rostbraunen Ziegeln und zusammen mit einem rotbraunen Kater, der sich in der Sonne räkelt. Vom Nachbargrundstück aus riecht es nach Kühen, hinter dem Hof aber duftet es nach Wiesen, nach noch mehr Wiesen – und nach Frühling.
Marcel bittet ins Haupthaus. Den hohen Decken und hölzernen Stützen des Wohnzimmers sieht man an, dass es einst ein Viehstall war. Dass hier allerdings mittlerweile eine Künstlerin lebt, ist sofort klar: Überall hängen, lehnen, liegen ihre Werke.
Tatiana An ist 62, sieht aber jünger aus – vor allem, wenn sie mit dem Akzent ihrer ukrainischen Muttersprache auf Englisch über ihre Kunst spricht und dabei viel gestikuliert, wenn ihr mal ein Wort nicht einfallen will.
Leben jetzt: Was für ein schöner Ort zum Malen!
Tatiana An: Oh ja! Als ich das erste Mal hier war, fehlten mir die Worte: Es ist wie ein wahr gewordener Traum!
Lj: Und was inspiriert Sie?
An: Vieles. Das kann ein Konzert mit klassischer Musik sein, sind manchmal aber auch nur ein paar einfache Töne, ein Ausflug in ein Museum oder eine Kinderzeichnung. Oder ein schöner Sonnenuntergang. Oder ein nebliger Morgen. Manchmal rührt mich aber auch die Schönheit der Welt zu Tränen. Ich liebe schöne Dinge. Ich mag auch Mode sehr. Wobei ich die Dinge nicht besitzen muss. Ich muss sie aber sehen!
Lj: Was malen Sie am liebsten?
An: Die Natur. Die Natur ist großartig, sie lässt mich erzittern. Ich liebe es, Sonnenlicht zu zeichnen, grünes Gras und Laub, Rosen im Garten, Trauben auf der Terrasse. Ich verehre die Weisheit und Einfachheit der Natur. Wenn man einen Baum anschaut, blickt er zurück. Der Baum fühlt dich, er kennt deine Gedanken.
Lj: Was fasziniert Sie daran, immer wieder neu die Natur zu malen?
An: Die Natur führt niemanden hinters Licht. Es gibt keine Tricks, keinen Schmuck, kein Make-up. Die Natur ist in ihrer Natürlichkeit schön. Jeden Tag diktiert die Werbung den Menschen, wie dünn oder wie groß sie sein müssen, welche Wimpern, Lippen oder Muskeln sie haben sollen. Es ist unmöglich, der Natur Mode überzustülpen, Lockenwickler oder Rouge. Die Natur ist natürlich schön.
1961 in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv geboren ist sie bereits in den späten 1990er-Jahren nach Griechenland gezogen, hat dort auf den Straßen Porträts für und von Menschen gemalt. Mehr hat sie sich damals nicht zugetraut. Aus Angst vor Kritik arbeitete sie lieber im Theater als Bühnendekorateurin. Bis sie 2016 beschloss, dass es so nicht weitergehen könne. Tatiana An beschloss, mutig zu sein. Und das war richtig so. Schnell meldeten sich bedeutende Kuratoren bei ihr, sie konnte erste Bilder verkaufen und an Ausstellungen verleihen. Mittlerweile kann sie von ihrer Kunst leben.
Lj: Wie viel von dem, was Sie zeichnen, ist Realismus? Und was fügen Sie hinzu?
An: In meinen Bildern der Natur ist alles wahr. Es ist eine Wahrheit, die über meine Augen in mein Herz kommt.
Lj: Haben Sie eine bestimmte Technik?
An: Ich nutze Acrylfarben. Ich liebe Ölgemälde sehr, aber Acryl passt besser zu mir. Ich bin eine Nomadin, sagt meine Tochter immer – und sie hat Recht. Ich bin oft umgezogen, habe schon in verschiedenen Ländern und in über 50 Wohnungen gelebt. Da passen schnell trocknende Farben besser.
Lj: Wie sieht es mit Vorbildern aus? Haben Sie welche?
An: Ist Ihnen aufgefallen, dass es in der Natur keine geraden Linien gibt? Wenn Sie in der Natur gerade Linien, spitze oder rechte Winkel sehen, wissen Sie sofort, dass dort Menschen waren. Die Natur besteht aus Wellenlinien: Flüsse, Wolken, Äste. Je mehr Menschen, desto mehr gerade Linien und Kanten, desto weniger Natur. Antoni Gaudí, ein berühmter katalanischer Architekt, hat Häuser ohne gerade Wände und Ecken gebaut. Ich finde ihn einfach wundervoll. Vincent van Gogh ist großartig: geschwungene Linien und der Himmel auf der Erde. „Wenn du die Natur wirklich liebst, wirst du überall Schönheit finden“, hat er gesagt. Und er hat so recht.
Sie selbst malt meist in ihrem Atelier im Garten, im Schatten riesiger Kirschlorbeersträucher. Das ist noch so ein alter Stall, groß und hell. Und auch hier ist jeder Winkel vollgestellt mit fertigen und fast fertigen Werken. Das meiste muss bald zur Post, ist schon verkauft.
Pinsel und Farbe für die nächsten Kunstwerke stehen bereit. Der Boden ist mit Folie beklebt, damit die Farbe ihn nicht zerstört. Aber: Die Folien sind sauber. Tatiana An ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Handwerkerin. Ihre Farbe landet auf der Leinwand, nirgends sonst.
Mehr Fragen und Antworten finden Sie in unserer Zeitschrift.
Mehr zu Tatiana An und ihrer Kunst gibt es hier, auf ihrer Homepage.