Erstellt von Xenia Frenkel

Achtsamkeit – die neue Pseudoreligion?

Achtsamkeit – die neue Pseudoreligion?
Achtsamkeit – die neue Pseudoreligion?

Achtsam essen, achtsam gehen, achtsam investieren, achtsam zu erziehen - alles möglich. Aber muss man es deswegen auch tun? Autorin Xenia Frenkel hat sich Gedanken um den Hype gemacht. | Bild: iStock

Lj-Autorin Xenia Frenkel erklärt, warum ihr das Milliardengeschäft mit der Achtsamkeit so auf die Nerven geht

Vor ein paar Jahren war in einem amerikanischen Magazin unter der Überschrift „Die Achtsamkeits-Revolution“ zu lesen, die Fähigkeit, sich für ein paar Minuten ausschließlich auf das langsame Kauen einer Rosine konzentrieren zu können, sei der Schlüssel zum Überleben und Erfolg im 21. Jahrhundert. Also ran an die Rosine und immer schön atmen. So wie es die zahlreichen Achtsamkeitsgurus weltweit vormachen.

Achtsamkeit ist ein Milliardengeschäft. Mithilfe von Büchern, Workshops, Apps, mit Kissen, Armbändern, Tees, Ölen und Kosmetikprodukten kann der gestresste Mensch lernen, achtsam zu essen, achtsam zu gehen, achtsam zu investieren, achtsam zu erziehen, ja, man kann sich sogar achtsam scheiden lassen. Achtsamkeitsprogramme haben längst den Weg in Schulen, Universitäten, Regierungsbehörden und Unternehmen gefunden. Nicht von ungefähr stehen ihre Vertreter und Vermarkter, was so gut wie immer Hand in Hand daherkommt, bei Vorstandsvorsitzenden hoch im Kurs.

Achtsamkeitstraining ist unzweifelhaft eine wirksame Technik, um trotz erheblichem Stress die Leistungsfähigkeit zu erhalten bzw. zu steigern. Leider ändert das rein gar nichts an den Stressursachen. Die liegen nämlich nicht selten in schlechter Bezahlung, ständiger Verfügbarkeit, inhumanen Arbeitszeiten und -bedingungen und keineswegs allein in uns selbst, wie uns die Achtsamkeitseiferer und ihr Gründervater, der US-Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn, weismachen wollen.

Pseudoreligion Achtsamkeit

Was mich ganz besonders stört, ist, dass die Achtsamkeitsbewegung pseudoreligiöse Züge trägt. Manche ihrer Anhänger stellen sich als wahrhaft erlöst dar und verströmen eine unangenehme Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Das kommt nicht von ungefähr. Die Botschaft der Achtsamkeitsgurus mündet nämlich in das schier aberwitzige Heilsversprechen, durch regelmäßige Achtsamkeitsmeditation würde die Welt ganz von allein zu einem besseren Ort.

Doch Achtsamkeitsübungen ändern rein gar nichts – sie helfen allenfalls, sich besser anzupassen. Sie ermutigen nicht, gegen Missstände aufzustehen, ihre Vertreter erklären uns vielmehr, dass alles Unglück und Leid seine Ursache einzig und allein in uns selbst hat. Auf diese Weise werden Stress, Angst und Unglück privatisiert.

Glück als „Insider-Job“?

Und noch etwas halte ich für problematisch. Kabat-Zinn behauptet, Glück sei ein „Insider-Job“, der nur erfordert, sich dem gegenwärtigen Moment zuzuwenden – ohne etwas Negatives auf sich zu beziehen. Dass sich Menschen manchmal verantwortlich, bisweilen auch schuldig fühlen, gilt als falsch.

Ich will gar nicht bestreiten, dass der eine oder andere von Achtsamkeitsübungen profitiert. Sie mögen auch helfen, freundlicher zu werden. Doch das ändert nichts daran, dass sich letztlich alle Achtsamkeit nur um das eigene Ich dreht.

Ich glaube nicht, dass man so ein besserer Mensch wird.

Soll es wirklich nur um mich gehen?

Was mich betrifft, möchte ich lieber mit offenen Augen durch die Welt gehen. Darüber nachdenken, was ich gesagt oder getan habe, und wenn es das Falsche war, um Verzeihung bitten. Und wenn ich mich innerlich sammeln möchte, werde ich weiterhin einen Waldspaziergang machen oder mich in eine stille Kirche setzen. Für mich heißt das, mich in Beziehung setzen zu Gott und seiner Schöpfung, Verantwortung zu übernehmen und immer wieder die Ärmel hochzukrempeln, damit es hier zumindest ein wenig rücksichtsvoller, gerechter, friedlicher zugeht. Dabei kommt es nicht zuerst darauf an, dass es nur mir gut geht.

Weitere spannende Themen finden Sie in unserer Zeitschrift.

Zur Rubrik

Was meinen Sie dazu?

Schreiben Sie uns Ihre Meinung an redaktion@lebenjetzt.eu

Teilen