Immer schon haben Menschen danach getrachtet, gewisse Mängel auszugleichen. Selbstoptimierung ist nichts Neues. Neu ist, dass sich der Sache eine ganze Industrie bemächtigt hat, die uns ziemlich erfolgreich einredet, dass Großes in uns steckt. Insgeheim wussten wir das längst, aber endlich sagt es mal jemand: Du hast Potenzial! Wir müssen es nur ausschöpfen, dann werden wir erfolgreich, glücklich, reich … Wie genau das vonstattengehen soll, bleibt etwas vage, aber dafür gibt es ja Kurse, Coachings, Apps oder irgendwelche anderen Tools.
Am Anschlag
Hin und wieder wünscht sich wohl jeder, er wäre wenigstens ein bisschen aufmerksamer, achtsamer, geduldiger, belastbarer, am besten alles zugleich. Dabei wissen wir, dass schon eine einzige, kleine Verhaltensänderung ein hohes Maß an Selbstreflexion, Ausdauer, Geduld und Zeit erfordert. Auch weiß im Grunde jeder, wie schwer Liebe, Familie, Beruf, Gesundheit, Freizeitbeschäftigungen, Sport zu versöhnen sind. Eigentlich gar nicht. „Ich weiß nicht, wie andere das schaffen“, sagte meine Tochter Leonie neulich, als sie nach neun Stunden am Laptop, Schularbeiten kontrollieren und Kuscheln mit ihrem Kind noch ein paar Yoga-Übungen machte. Sie klang müde.
Die Quadratur des Kreises
Josef Zierl, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, hat in seiner Münchner Praxis tagtäglich mit den Auswirkungen der Selbstoptimierung zu tun. Er sagt, „der Wunsch und auch die gesellschaftliche Forderung nach ständiger Steigerung führen zur Entgleisung der Selbstverwirklichung. Weil sie immer neue, höhere Ideale erzeugt, an denen die Einzelnen immer wieder scheitern.“
Diesem Sog kann man sich kaum entziehen. Weil wir soziale Wesen sind. Wir wollen gesehen, anerkannt werden, dazugehören. In einer Welt, wo die Anforderungen in Alltag und Beruf kontinuierlich steigen, muss man dafür immer mehr tun, und weil das so ist, suchen immer mehr Menschen händeringend nach Mitteln, um produktiver, aufmerksamer, belastbarer zu werden und zugleich achtsamer und entspannter. Das kann nicht funktionieren. Was also tun?
Zurück zum menschengerechten Maß
Es könnte helfen, sich bewusst zu machen, dass wir alle Mittelmaß sind. Weltweit haben nur knapp fünf Prozent einen Intelligenzquotienten, der nach oben oder unten merklich vom Durchschnitt abweicht. Mittelmaß meint übrigens nicht Mittelmäßigkeit. „Es heißt aber sehr wohl, die Beschränktheit menschlicher Möglichkeiten zu erkennen“, schreibt Markus Reiter in seinem Buch „Lob des Mittelmaßes“. Somit sei das Mittelmaß „das menschengerechteste Maß“.
In einem Artikel des katholischen Theologen Johannes Röser entdecke ich einen Satz, der gut zu diesem Gedanken passt: „Im Lob der Fehlbarkeit und in dessen Anerkennung erst werden die Menschen menschlich, bescheiden, einsichtig, gerecht, ehrfürchtig. Manchmal auch wieder gottesfürchtig – fromm.“ Es wäre zu hoffen.