Das fahrende Klassenzimmer der Steyler in Indien
Bildung ist die einzige Chance der Straßenkinder von Pune auf eine bessere Zukunft. Deshalb muss die Schule zu ihnen kommen. Eine Steyler Organisation schickt sie auf Rädern zu den Kindern
Der weiße Bus schlängelt sich durch den lebhaften Verkehr der indischen Metropole Pune, vorbei an hupenden Autos, Rikschas und Lkws. Sein Ziel: einer der vielen Slums in der Dreimillionenstadt.
Gemeinsam mit dem Fahrer und Lehrerin Pushplata Rodrigues holen die etwa 25 Kinder den großen Teppich aus dem Innenraum und breiten ihn neben dem Bus aus. Keine fünf Minuten später sitzen sie bereits darauf, der Unterricht beginnt – mit einem kurzen Gebet: „Lieber Gott, wie schön ist deine Schöpfung, wir danken dir für diese Welt.“ Dann verteilt die Lehrerin an jedes Kind eine Schiefertafel. „Heute wiederholen wir die Zahlen von eins bis zehn“, sagt sie. „Bitte schreibt sie ordentlich auf.“ Erstaunlich leise und diszipliniert machen sich die etwa Drei bis Siebenjährigen an ihre Aufgabe, die Kreide quietscht. Nicht nur Zahlen und Ziffern werden auf dem Teppich neben dem Bus geübt, auch Singen und Tanzen gehört zum Vorschulunterricht – Appetitanreger, die mehr Lust auf Lernen machen sollen. „Wir wollen damit die Kinder motivieren, eine Regelschule zu besuchen“, sagt Pater Mathew Korattiyil SVD. Seit vier Jahren leitet er die Steyler Sozialorganisation „Sarva Seva Sangh“, zu Deutsch etwa „allen zu Diensten“, die sich für die Bildung von Straßenkindern einsetzt.
Das Los der indischen Straßenkinder: Müll sammeln oder betteln
Etwa 14.000 obdachlose Kinder leben mit ihren Familien in Pune, einer Stadt mit boomender Softwareindustrie im Bundesstaat Maharashtra. Sie hausen in den improvisierten Zeltlagern, schlafen am Straßenrand, auf Verkehrsinseln, Baustellen und vor dem Bahnhof. Viele der Familien stammen aus dörflichen Regionen, die Suche nach Arbeit trieb sie in die Stadt. Hier fristen sie seit Jahren ihr Dasein als Tagelöhner oder Bettler. Und auch die Kinder müssen mithelfen, das Einkommen der Familie zu sichern.
Von sozialem Aufstieg können die Kinder nur träumen. „Der einzige Weg, dem Kreislauf der Armut zu entkommen, ist Bildung“, betont Pater Mathew. Doch viele Kinder werden von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt. Also rollt die Schule dorthin, wo die Kinder leben. Fünf Stationen fährt er täglich ab, der Unterricht dauert jeweils eine Stunde. Vor Corona fand er im Bus selbst statt, aus dem die Sitze entfernt wurden. Innen ist sogar ein Bildschirm angebracht, auf dem die Kinder gelegentlich Cartoons sehen können. Auch wenn das zurzeit nicht möglich ist Spaß macht die Schule den Kindern trotzdem. „Ich komme regelmäßig zum Bus“, erzählt der siebenjährige Shankar stolz, nachdem er seine Tafel mit Ziffern vollgeschrieben hat. Die sechsjährige Laxmi zieht es zum Schneiderhandwerk, „oder was mit Maschinen“. Der Bus hat seine Wirkung getan: Beide wollen unbe dingt eine richtige Schule besuchen.
Die Eltern überzeugen, dass sie ihre Kinder zur Schule schicken
Davon jedoch müssen die Eltern erst einmal überzeugt werden. Und das sei nun mal sehr schwierig, so Pater Mathew. Sie erkennen die Notwendigkeit nicht und wollen oder können zudem nicht auf den täglichen Bettelzuverdienst ihrer Kinder verzichten. Große Kinderaugen verleiten nun mal eher dazu, etwas Geld zu geben. Und es mangelt an Vertrauen: Warum sollten es fremde Menschen gut mit der Familie meinen, wo sie doch sonst nur schlecht behandelt wird?
Die Kosten für die Schulmaterialien, Ranzen und Uniform werden von „Sarva Seva Sangh“ übernommen. Lernwillige Kinder, deren Eltern sich überhaupt nicht um sie kümmern können, bekommen einen Platz in einem Wohnheim. Wie der 14jährige Ganesh, der mit anderen Kindern und Jugendlichen in einem Haus der Steyler Missionare lebt. Der höfliche Junge ist ein guter Schüler. „Ich kann bereits lesen und schreiben“, sagt er stolz. Einen Berufswunsch hat er auch schon: „Ich möchte in die Armee und meinem Land dienen.“ Vielleicht macht er aber auch eine der Berufsfortbildungen, die von „Sarva Seva Sangh“ allen SchülerInnen angeboten werden: als MechanikerInnen, FahrerInnen, SchneiderInnen oder Hotelangestellte. Zum Betteln wird er jedenfalls nicht mehr zurückmüssen.
Für Shankar, Laxmi und ihre Freunde ist nun Schulschluss, die Stunde ist schnell vergangen. Die Tafeln werden gesäubert und eingesammelt, der Teppich wird wieder eingerollt und verstaut. Zum Abschied bekommen alle SchülerInnen noch eine Packung Kekse. Dann rollt der Bus wieder los – zur nächsten Station. Die Kinder laufen ihm noch ein Stück weit hinterher. Und freuen sich darauf, dass er morgen wieder hier parkt.
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