Erstellt von Ulla Arens

Den Kindern Indiens eine Stimme geben

Den Kindern eine Stimme geben
Ziel der Organisation Samman: die Menschen stärken und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen

Ziel der Organisation Samman: die Menschen stärken und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen. | Foto: SVD

In den Slums von Indien haben Kinder und Frauen die wenigsten Rechte. Durch die Steyler Organisation „Samman“ lernen sie, für sich und ihre Belange einzustehen. Und sich damit langfristig aus dem Elend zu befreien.

Swati Wakode ist gerade einmal 15 Jahre alt, aber bereits Parlamentspräsidentin. Ihr Amtssitz: ein Slum im indischen Bhopal. Mit ihren Ministerinnen und Ministern und deren Stellvertretern sitzt sie im Kreis auf dem Boden einer Wellblechhütte. Die Jungen und Mädchen diskutieren über Probleme im Slum und suchen nach Lösungen. Da wäre zum Beispiel eine kaputte Straßenlampe, sie muss erneuert werden – eine Aufgabe für den Energieminister. Er wird dem Gemeinderat einen Brief schreiben. Ein Mitglied des Parlaments berichtet, dass ein Kind aus der Nachbarschaft seit über einer Woche nicht zur Schule geht – dazu soll der Bildungsminister mehr Informationen einholen. Dann will man mit der Familie reden.

Und da ist noch die Sache mit Sumit. Der Elfjährige, der ebenfalls in diesem Slum wohnt, leidet an Kinderlähmung und kann nicht laufen. Sumit liegt die meiste Zeit im Bett. Möchte er vor die Tür, muss er von seinem Vater getragen werden. Einen Rollstuhl kann sich die Familie nicht leisten. Das Parlament ist sich mit der Gesundheitsministerin schnell einig: Die Kinder wollen für einen gebrauchten Rollstuhl sammeln, damit sich Sumit endlich mit Freunden treffen und die Schule besuchen kann.

Lebenbedingungen von Frauen und Kindern verbessern

Das Kinderparlament, das einmal die Woche tagt, ist eins von vielen Projekten der Sozialorganisation „Samman“ (Social Animation of Marginalized, Migrants and Nomads). „Wir wollen die Lebensbedingungen vor allem der Kinder und Frauen in den Slums von Bhopal verbessern“, sagt der Steyler Pater James Simon SVD, der die Organisation leitet. „Wir wollen dabei helfen, sie stark zu machen, und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen.“

Denn ihre Gegenwart ist geprägt von tiefster Armut. In den etwa 400 Slums, die über den Stadtrand der Millionenstadt verteilt sind, leben zum großen Teil Migranten, die auf der Suche nach Arbeit ihre Dörfer verließen. Doch die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen mussten sie schnell aufgeben. Heute arbeiten sie als Müllsammler und Tagelöhner oder werden als Haushaltshilfen ausgebeutet. Was sie verdienen, reicht gerade zu einer baufälligen Hütte, die mit Wellblech oder Sackleinen bedeckt ist – ohne Wasser, ohne eigene Toilette. „Aus Verzweiflung über ihre hoffnungslose Lage greifen viele Männer zu Alkohol und Drogen, werden gewalttätig“, so Simon.

Zur Schule gehen statt Müll zu sammeln

Bildungsangebote sollen Kindern und Jugendlichen die Chance geben, das Leben im Slum hinter sich zu lassen. Mitarbeiter von „Samman“ motivieren Schulabbrecher, wieder zu lernen statt sich auf der Müllhalde ein paar Rupien zu verdienen oder sich mit Kleinkriminalität durchzuschlagen. Eltern erklären sie, wie wichtig Bildung für ihre Kinder ist. In sogenannten Brückenkursen können Kinder, die lange nicht zur Schule gingen, Versäumtes aufholen.

Das seelische Rüstzeug, sich aus dem Teufelskreis der Armut zu befreien, soll ihnen das Parlament geben, an dem Kinder zwischen sechs und 18 Jahren teilnehmen können. Damit das Parlament auch tatsächlich etwas in seinem Slum erreichen kann, hat „Samman“ die örtlichen Entscheidungsträger mit an Bord geholt. Vor ihnen, den Eltern und den Bewohnern des Slums müssen die Parlamentsmitglieder dann auch den Eid ablegen. Auch Premierministerin Swati Makode hat versprochen: „dass ich meine Verantwortung und meine Pflichten verstehe und sie bestmöglich erfülle. Dass ich mich dem Wohlergehen jedes Kindes in meiner Nachbarschaft widme und helfe, die Probleme von Kindern zu lösen.“

Das Kinderparlament kann etwas bewirken

Das Parlament werde ernst genommen, betont Pater James Simon. „Es hat auch oft Erfolg mit seinen Anliegen.“ So schafften es die Kinder, dass man eine Straße baute, weil die alte bei Regen unpassierbar war. Sie organisierten einen dringend benötigten Wassertank und konnten Eltern davon überzeugen, das Schulgeld für ihre Kinder zu zahlen. „Durch die Arbeit im Parlament lernen sie, Verantwortung zu übernehmen, füreinander einzustehen, öffentlich für ihre Sache zu sprechen“, erzählt Pater James Simon. „Die Kinder spüren, dass sie tatsächlich etwas bewirken können. Das hilft ihnen dabei, sich später aus dem Elend zu befreien.“

Auch das Leben von Sumit, dem poliokranken Jungen, ist dank „Samman“ und des Kinderparlaments ein anderes. Die Jungen und Mädchen baten um Spenden, veranstalteten einen Tanzwettbewerb, bei dem sie Geld sammelten. So bekamen sie genug zusammen, um einen gebrauchten Rollstuhl zu kaufen. Nun kann Sumit das Haus verlassen, hat im Brückenkurs Schreiben und Rechnen gelernt. Und ist jetzt Mitglied des Kinderparlaments – als stellvertretender Gesundheitsminister.

Mehr zur Arbeit der Steyler im Projekt „Samman“ finden Sie in unserer Zeitschrift.

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Daten und Fakten

Die Steyler Organisation „Samman“ wurde 2005 gegründet; seit 2014 leitet sie Pater James Simon SVD. Unter seiner Führung wuchs die Zahl der Mitarbeiter von zwei auf 27. „Samman“ betreut zehn Slums in Bhopal, durch die Selbsthilfegruppen ist die Organisation in 25 aktiv. 45 Selbsthilfegruppen gibt es insgesamt, sowie zehn Kinderparlamente. Inzwischen wurde auch eine „Minibank“ gegründet, die „Cooperative Society“, bei der Frauen Geld einzahlen und Mikrokredite bekommen können.

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