Ob es uns gefällt oder nicht –wir alle haben Vorurteile. Selbst wenn wir uns als tolerant, liberal und christlich bezeichnen, sind wir nicht immun gegen Schubladendenken. Unser Gehirn ist nicht dazu gemacht, völlig objektiv zu sein. Mit dieser Aufgabe wäre es überfordert. Wir müssen uns die Welt vereinfachen, dem Durcheinander eine Ordnung entgegensetzen, indem wir alles um uns herum in kleine und größere gut verdauliche Häppchen teilen, denn „sonst würden wir in der Flut der Informationen untergehen, könnten im Alltag nicht funktionieren“, sagt Dr. Ulrich Wagner, Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg.
Wir unterscheiden Bäume von Büschen, Hunde von Katzen, Räder von Autos. So erkennen wir, was wir sehen, ohne jedes Detail berücksichtigen zu müssen. Kategorisieren nennt man das. Bei Menschen gehen wir ähnlich vor. Wir teilen sie in Gruppen ein: in Männer und Frauen, Junge und Alte, Dicke und Dünne, Lustige und Spaßbefreite. Solche Unterscheidungen erleichtern das soziale Miteinander.
Wir sehen nur, was wir sehen wollen
So weit, so sinnvoll. Das Kategorisieren verführt allerdings dazu, dass wir die eigene Gruppe bevorzugen und uns von denen abgrenzen, die anders sind, weniger vertraut. Wir verallgemeinern, öffnen für jede Gruppe gedanklich eine Schublade, füllen sie mit einigen wenigen Inhalten und vernachlässigen die Details. Auf diese Weise entstehen Stereotypen, wie wir sie alle kennen: Flüchtlinge wollen nur unser Geld, Männer können nicht über Gefühle sprechen, Veganer sind genussfeindlich, Frauen mit Kopftuch unterdrückt.
Und falls wir im Fernsehen eine Kopftuch tragende, selbstbewusste Muslima mit Doktortitel sehen, wird sie einfach zur Ausnahme, die die Regel bestätigt. Was nicht passt, wird passend gemacht. Denn wir fühlen uns wohler, wenn alles stimmig und übersichtlich scheint. Wir sehnen uns nach „kognitiver Geschlossenheit“. So nennen Wissenschaftler dieses Phänomen.
Färben wir die Stereotype dann auch noch mit negativen, ablehnenden Gefühlen, haben wir ein Vorurteil. Und zwar gegen Menschen und Gruppen, von denen wir uns wegen ihres Andersseins bedroht fühlen. Die Eigenschaften, mit denen wir die jeweilige Gruppe versehen – dumm, kriminell, aggressiv – denken wir uns nicht selber aus. „Sie sind gelernt, so wie wir Sprache lernen“, erklärt Dr. Albert Scherr, Professor für Soziologie in Freiburg. „Um Vorurteile zu entwickeln, müssen diese bereits sozial akzeptiert sein.“
Mit Vorurteilen lässt sich Politik machen
Vorurteile schleichen sich also bei uns ein – mal leise und unbemerkt, mal in lauter Stammtischrunde. Und sie bestätigen sich immer wieder selbst: Nur was dem eigenen negativen Denken entspricht, wird wahrgenommen. Und festigt das Feindbild. Das bringt uns erstmal Vorteile. „Durch die Abwertung der anderen werten wir uns selbst, die eigene Gruppe auf. Mit Vorurteilen kann man auch Politik machen – gegen die anderen, für den eigenen Machterhalt, als Rechtfertigung für Entscheidungen“, so Soziologe Scherr.
Die Schattenseite kennen wir alle: Vorurteile machen Empathie für Mitglieder einer fremden Gruppe schwer, wenn nicht gar unmöglich. Sie führen zu Diskriminierungen, im schlimmsten Fall zu Gewalt. Wie gefährlich sie sein können, hat uns die eigene Geschichte gelehrt.
Von Vorurteilen ausgebremst
Auch heute werden Menschen permanent durch Vorurteile benachteiligt. Laut einer Umfrage hält es nur jede dritte Frau für realistisch, in eine Führungsposition aufzusteigen. Oder: Wer bekommt die Dreizimmerwohnung in guter Lage? Familie Schneider oder Familie Özgün? Die Antwort ist sehr einfach.
Vorurteile beeinflussen sogar die Menschen, gegen die sie sich richten: Bei einem Leistungstest schnitten Afroamerikaner schlechter ab, wenn sie vorher ihre Hautfarbe angeben mussten. Sie hatten verinnerlicht, dass „schwarz“ mit „ungebildet“ gleichgesetzt wird. Und: Wenn weibliche Probanden vor einem Test daran erinnert wurden, dass Frauen schlecht in Mathe sind, waren sie es schließlich auch.
Das Gegenüber zum Nachdenken bringen
Vorurteile können sich zwar ändern und abschwächen, hartnäckig sind sie allemal. Deshalb sollte man sie, wenn sie von anderen geäußert werden, auch nicht unwidersprochen hinnehmen oder um des lieben Friedens willen abnicken. „Vorurteile brauchen Bestätigung, sonst funktionieren sie nicht“, so Professor Scherr.
Also besser dagegenhalten, wenn Bekannte oder Kollegen behaupten, dass Flüchtlinge uns die Arbeit wegnehmen oder Frauen keine guten Chefs sein können. Das verlangt Mut und gelingt nicht immer auf Anhieb. Wir können auch nicht erwarten, dass der andere dann einräumt, wir hätten recht. Aber vielleicht beginnt er darüber nachzudenken, ob er wirklich richtig liegt.
Und was ist mit den eigenen Vorurteilen? „Ein erster wichtiger Schritt ist, dass wir uns unserer Schubladen im Kopf bewusst werden“, sagt Sozialpsychologe Professor Wagner. „Und dann unser Schubladendenken kritisch hinterfragen – auch wenn das anstrengend ist.“
Aus der Anonymität heraustreten
Am besten gegen Vorurteile wirkt übrigens persönlicher Kontakt. Professor Wagner: „Idealerweise begegnet man dem anderen auf Augenhöhe.“ Als Kollege oder Kollegin bei der Arbeit. Als Mutter in der Schule. Als Mitglied im gleichen Sportverein.
Vorurteile abzubauen – das bedeutet nicht, dass mir mein Gegenüber unbedingt sympathisch sein muss und ich alles toll und richtig finde, was er sagt. Aber zumindest urteilen wir objektiver, wenn für uns aus dem anonymen Mitglied einer Gruppe wieder ein Mensch wird.
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