Es gab in der Religionsgeschichte der Menschheit ein Stadium, in dem Menschenopfer das Höchste waren, das man der Gottheit darbringen konnte. Dieses Stadium ist für uns „so was von vorbei“, dass wir dieses Denken nicht mehr nachvollziehen können. Manche Exegeten vermuten, dass die Abrahams-Geschichte von der „Opferung Isaaks“ ursprünglich dazu diente, um Menschenopfer abzuschaffen. Ein Engel oder Gott selber fällt Abraham in den Arm, als er seinen Sohn töten will. Die Pointe der Geschichte war: „Nimm diesen Widder hier als vollwertigen Ersatz für deinen Sohn. Es genügt mir zu wissen, dass du bereit bist, mir das Liebste herzugeben ...“
Als diese Geschichte Eingang in die Bibel fand, waren Menschenopfer in Israel längst nicht mehr üblich. Trotzdem wurde sie aufgenommen. Warum? Weil das Leben so beschaffen ist, dass es die meisten an den Punkt führt, wo man das Liebste hergeben muss. Ein sechsjähriges Mädchen hat einmal zu mir gesagt: „Gott ist gemein. Erst hat er Mama solche Freude bereitet, als sie schwanger wurde, und dann hat er ihr das Baby wieder genommen.“
Als meine Tante ihren Mann verlor, hat sie gesagt: „Ja, das Leben geht weiter, aber der Glanz ist draußen.“
Nicht nur der Tod raubt uns Allerkostbarstes. Zum Beispiel müssen auch Eltern ihre Kinder loslassen, in die Freiheit und Eigenständigkeit entlassen. Das Leben ist sehr erfinderisch darin, uns Allerschwerstes abzuverlangen und uns ins Loslassen einzuüben.
Man könnte einwenden: Es besteht ein gewaltiger Unterschied, ob einem jemand genommen wird oder ob man ihn aktiv opfert; Abraham verliert seinen Sohn nicht, er soll ihn töten. Richtig. Aber beinhaltet jedes „Wirklich- Loslassen“ nicht auch ein aktives Moment? Ich muss die Hand öffnen, aktiv hergeben, sonst halte ich auch noch am Verlorenen fest und werde dabei verbittert, vergrämt und verhärtet. An der Geschichte von der „Opferung Isaaks“ kann man sich die Zähne ausbeißen – ganz genauso wie an der Wahrheit, die sie verkündet: In Gott sollst du dich festmachen, an seiner unendlichen Güte festhalten, alles andere musst du, wenn das Leben dich an diesen Punkt führt, dahingeben können.
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