Der Mantel war vor allem dazu da, um sich in der Nacht in ihn einzuhüllen wie in einen Schlafsack – zum Schutz gegen die Kälte von unten, vom Boden, auf den man sich hinlegte, und gegen die Kälte von oben. Deswegen war der Mantel ein sehr großes Stück Stoff, ein sehr breiter Umhang. Wenn man ihn in der Mitte teilte, erfüllte er nur mehr seine halbe Funktion.
Der hl. Martin übertreibt die „Nächstenliebe“ nicht, indem er mit dem Bettler die Rollen tauscht, aber zum Teilen, zum Fifty-fifty-Machen ist er gerne bereit. Das ist ein gutes Bild für „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das ist sehr großherzig und eine hohe Latte für Menschen wie mich, die geneigt sind, 90:10 zu „teilen“. (90 für mich natürlich. Aber auch das kann die Klugheit gebieten.)
Wann aber ist es geboten, wirklich alles zu geben? Da fällt mir die Geschichte vom „Salomonischen Urteil“ ein (1 Kön 3,16-28). Vor König Salomo erschienen zwei Dirnen, die in derselben Nacht ein Kind geboren hatten. Weil das eine gleich starb, stritten sie sich um das lebende. Beide behaupteten, das lebende sei ihres. Da ließ sich Salomo ein Schwert bringen, um das lebende Kind „gerecht aufzuteilen“: die eine Hälfte für die eine, die andere Hälfte für die andere.
„Doch nun bat die Mutter des lebenden Kindes den König – es regte sich nämlich in ihr die mütterliche Liebe zu ihrem Kind: Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind und tötet es nicht! Doch die andere rief: Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es! Da befahl der König: Gebt jener das lebende Kind und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.“ Die wahre Mutter erkennt man daran, dass ihr das Leben des Kindes, seine unzerteilte Ganzheit, wichtiger ist als alles eigene Glück.
Ich muss verzichten können, obwohl ich im Recht bin – um der ungeteilten Liebe willen. Ich muss ertragen können, dass der Anspruch auf Glück und Wohlergehen und auf einen verstehbaren Sinn in dem, was mir zustößt, nichtig wird. Nicht um Recht zu behalten geht es, sondern um Leben zu erhalten. Ich muss alles geben.
Das zeigt: Es gibt ein paar Dinge im Leben, wo es gilt, alles zu geben – und wo „alles“ gerade gut genug ist; wo das Beste, das wir geben können, uns nämlich, ganz, die eigentliche Norm ist.
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