Wie die Steyler Prostituierten in Mexiko-Stadt helfen
Die Steyler Schwester Selvi Selvaraj SSpS engagiert sich für Frauen, die in Mexiko-Stadt als Prostituierte arbeiten. Sie hilft, wo sie kann und versucht, ihnen den Ausstieg zu ermöglichen
Auf den ersten Blick fallen die etwa zwei Dutzend Frauen kaum auf. Nur wenige sind auffällig gekleidet, einige noch nicht einmal geschminkt. Sie stehen in der Nähe der Metrostation Revolución, einem belebten Platz in Mexiko-Stadt, an dem die Autos vorbeirauschen, die Menschen entlanghasten – und warten auf Kunden. Die jüngsten der Frauen sind 15 Jahre alt, die meisten deutlich älter, die Ältesten über 80. Prostituierte würde Schwester Selvi Selvaraj SSpS sie nie nennen, denn das reduziert sie auf ihre Arbeit. Sie spricht lieber von „Frauen, die als Prostituierte arbeiten“
Schwester Selvi begegnet den Frauen, ohne sie zu verurteilen
Seit fünfzehn Jahren nimmt sich die Steyler Schwester, die aus Indien stammt, dieser Frauen an. Zweimal die Woche trifft sie ihre Schützlinge an der Metrostation, vor billigen Hotels oder in einem kleinen Park in der Nähe, um sie, wie sie sagt „zu begleiten“. Das heißt, Schwester Selvi redet, lacht und weint mit ihnen, hört sich ihre Sorgen und Nöte an, gibt Ratschläge, wenn sie gefragt wird. „Sie erzählen mir Dinge, die sie sonst keinem anderen anvertrauen können.“ Schwester Selvi geht mit den Frauen zum Gynäkologen, ins Krankenhaus oder zum Psychologen. Termine, die sie bei Ärzten, die sie kennt, selbst organisiert und teilweise auch bezahlt. In der Corona-Zeit brachte sie Lebensmittel. Die Frauen haben auch ihre Handynummer, falls sie Hilfe oder ein Gespräch brauchen.
Viele von ihnen sind durch familiäre Notlagen in die Situation gekommen, etwa weil ein Kind krank wurde. Andere wurden von ihrem Partner gezwungen. Manche folgen der Mutter in diesen Beruf. Wieder andere wurden von Zuhältern unter falschen Versprechungen nach Mexiko-Stadt gelockt. In einem Land wie Mexiko, das von großer Armut geprägt ist, ist es ohnehin schwierig, genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Insbesondere wenn man weder lesen noch schreiben kann, was etwa für die Hälfte dieser Frauen zutrifft. Ihre Notlage wird zusätzlich durch Drogenabhängigkeit erschwert.
Nicht alle arbeiten täglich. Wer von weit anreist, bleibt vielleicht zwei, drei Tage und schläft dann in einem billigen Hotel oder vor einem Geschäftseingang. Andere kommen nur, wenn die Miete fällig ist oder sie dringend Geld brauchen. Es dauerte eine Weile, bis Schwester Selvi ihr Vertrauen gewinnen konnte. Doch nicht alle wollen ihre Nähe, gerade die jungen Frauen, die von ihren Zuhältern „beschützt“ werden, wenden sich ab. Von den anderen wird sie freudig begrüßt. „Wie halten nach ihr Ausschau“, sagt etwa Ivonne,55. „Wenn sie nicht da ist, vermissen wir sie.“ Für Fernanda, 35, ist sie so sogar „Teil der Familie“.
Endlich Selbstwertgefühl entwickeln
Regelmäßig organisiert Schwester Selvi Treffen im Haus der Missionsschwestern am anderen Ende der Stadt. Sie und die beiden anderen Steyler Schwestern reden mit den Frauen darüber, wie sie sich besser schützen können, worauf sie gesundheitlich achten müssen, aber auch über Probleme mit Kindern und Enkeln. Schwester Selvi würde für diese Treffen gerne einen Raum nutzen, der näher an der Metrostation liegt. Bislang vergeblich, keiner will ihr für diesen Zweck die Tür öffnen.
Natürlich ist es ihr ein besonderes Anliegen, die Frauen aus der Prostitution zu holen. „Sie können soviel mehr schaffen, als sie glauben. Das versuche ich ihnen immer klarzumachen.“ Aber sie will sie ganz bewusst nicht unter Druck setzen. „Wenn sie mir erzählen, dass sie in ein paar Monaten oder in einem Jahr aussteigen wollen, dann biete ich Ihnen meine Hilfe an.“ Einigen Frauen hat sie einen Mikrokredit organisiert. Sie schaffte Nähmaschinen an, kaufte Stoffe, organisierte Strick und Stickkurse und besorgte Aufträge, um ihnen damit eine alternative Verdienstmöglichkeit anzubieten. Drei Frauen half sie auf diese Weise ganz auszusteigen. „Das ist eine kleine Zahl. Für mich ist es ein großer Erfolg.“
Fernandas Geschichte
Eine der Frauen, denen Schwester Selvi zur Seite steht, ist Fernanda, 35. Für ‚Leben jetzt' berichtet sie offen über ihr Leben:
Ich hatte eine sehr schöne, behütete Kindheit. Auch wenn wir nicht viel Geld hatten, fehlte es uns Kindern an nichts. Familie wurde bei uns großgeschrieben und meine Eltern haben uns Werte wie Nächstenliebe und Respekt beigebracht. Nach meinem Schulabschluss arbeitete ich als Fotografin und in einem Schönheitssalon. Alles lief gut, bis ich einen großen Fehler machte.
Ich verliebte mich in einen verheirateten Mann, wurde schwanger. Die Beziehung zerbrach, weil es keine gemeinsame Zukunft gab. Aber ich bereue nichts, denn ich hatte meinen Sohn. Doch ein Baby kostet Geld, wie sollte ich es schaffen, mein Kind anständig zu versorgen? Ich war ganz allein auf mich gestellt. Meine Eltern konnten mich finanziell nicht unterstützen und ich fand keinen festen Job. Mit Prostitution könne man sehr leicht Geld verdienen, habe ich immer wieder von Frauen gehört. Also bin ich diesen Weg gegangen. 20 Jahre war ich damals alt, unerfahren und naiv. Inzwischen habe ich zwei Kinder und wenn ich arbeite, passt meine Mutter auf sie auf.
Meine Familie weiß bis heute nicht, womit ich mein Geld verdiene. Sie glauben, dass ich in einem Stoffgeschäft arbeite. Natürlich würde ich gerne aussteigen, mehr Zeit für meine Kinder haben, beruflich etwas machen, auf das ich stolz sein kann. Darüber habe ich viel mit Schwester Selvi gesprochen. Mit ihrer Hilfe bekam ich einen Mikrokredit und konnte ein kleines Lebensmittelgeschäft eröffnet. Deshalb gehe ich jetzt seltener zur Metrostation. Wenn ich es schaffe, ganz auszusteigen, dann nur mit ihrer Hilfe. Ich weiß, sie wird an meiner Seite sein und meine Hand halten, wenn ich dafür bereit bin.